Am 24. September steht in Deutschland die Bundestagswahl an. In diesem Wahljahr nutzte Markus Eisel die Chance und traf sich mit diversen Politikern verschiedenster Parteien, um mit ihnen über die politische Situation in Deutschland zu sprechen.

Wolfgang Bosbach warnt davor, die AfD nicht zu unter-, aber auch nicht zu überschätzen. (Foto: Manfred Esser/CDU Rheinisch-Bergischer Kreis.)

Wolfgang Bosbach (CDU) ist studierter Rechtsanwalt. Er war von Februar 2000 bis November 2009 stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Union und von November 2009 bis Juli 2015 Vorsitzender des Innenausschusses des Deutschen Bundestages. Am 22. August 2016 verkündete er, 2017 nicht mehr für den Bundestag kandidieren zu wollen.

Die EU ist der größte Friedensstifter, den wir haben. Müsste das von Politikern nicht mehr in den Vordergrund gestellt werde, um dem Populismus und den rechtsradikalen Tendenzen entgegenzusteuern?

Wolfgang Bosbach: Der Gründungsgedanke der Europäischen Union ist in allererster Linie die Bewahrung von Frieden und Freiheit, dass aus ehemaligen Feinden und Kriegsgegnern befreundete Nationen werden, die gemeinsame Interessen haben und dafür sorgen, dass nie mehr Armeen aufgestellt werden, die gegeneinander Krieg frühen. Das sage ich immer wieder. Die Formel „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ ist mir etwas zu kurz, denn der Euro ist eine Währungseinheit. Der Euro symbolisiert den europäischen Einigungsprozess. Durch die Einführung einer Gemeinschaftswährung sollten die Menschen in Europa aufeinander zugehen. Aber der Euro ist nicht das Wesen der Europäischen Union. Es gibt viele Länder in der Europäischen Union, die dazu gehören, aber eine eigene Landeswährung haben.

Aber wird der Gedanke nicht viel zu wenig nach vorne geschoben? Es wird oft über die Wirtschaftskraft der EU geredet, aber kaum über die Einheit, die dadurch entstanden ist.

Wolfgang Bosbach: Diese Diagnose ist leider richtig. Das liegt vielleicht daran, dass es jedenfalls für die jüngere Generation selbstverständlich ist, in Frieden und Sicherheit zu leben. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg Soldat, unter anderem in Russland. Er hat die Schrecken des Krieges hautnah erlebt. Meine Mutter ist 1928 geboren, auch sie hat die Kriegszeit als Teenager erlebt und ihre beiden Brüder verloren. Das Elternhaus meines Vaters wurde zerbombt. Für meine Eltern ist es nicht selbstverständlich, dass wir in Frieden und Freiheit leben, dass wir mit keinem Nachbarn ernstzunehmende außenpolitische Konflikte haben. Aber schon für die Generation meiner Kinder ist das völlig anders, sie kennen nur Frieden und für sie ist es selbstverständlich – und was ganz selbstverständlich ist, weiß man nicht immer besonders zu schätzen.

Fangen da nicht die Fehler bei dem Thema Bildung an? Dass man sich mit der Vergangenheit gar nicht mehr so beschäftigt wie es vielleicht unsere Generation noch gemacht hat?

Wolfgang Bosbach: Wir haben Geschichte oft gelehrt als eine Abfolge von dramatischen historischen Ereignissen, insbesondere von Kriegen. Vielleicht sollten wir im Geschichtsunterricht oder in Gesellschaftskunde, aber auch einmal zuhause, im privaten Gespräch, darauf hinweisen, dass man sich immer wieder aufs Neue für Frieden und Freiheit einsetzen und dafür sorgen muss, dass beides nicht in Gefahr gerät und dass Milliarden Menschen auf der Welt nicht das Glück haben, in Demokratien zu leben, wie wir sie in der Bundesrepublik seit 1949 kennen.

Bei der Verfolgung des letzten AfD-Parteitags ist mir wieder einmal aufgefallen, dass mit Halbwahrheiten und Ängsten gespielt wird. Wo ist da das Geschichtsbewusstsein? Ich habe das Gefühl, dass der Bildungsverlust, den wir haben, zum großen Teil dazu führt, dass rechte Strömungen entsprechenden Zulauf kriegen.

Wolfgang Bosbach: Ich würde die Bedeutung der AfD in der politischen Landschaft nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen. Wir sollten nicht so tun, als stünde die AfD unmittelbar vor der Erringung der absoluten Mehrheit bei der nächsten Bundestagswahl. Die Demonstrationen in Köln haben dazu beigetragen, dass der Bundesparteitag der AfD eine öffentliche Beachtung gefunden hat, die er ohne den ganzen Trubel rund um das Tagungshotel gar nicht bekommen hätte. Die AfD war nach dem Ausscheiden ihres Gründers Professor Lucke in einem ganz schweren Fahrwasser und hat dann durch die Flüchtlingspolitik wieder Luft unter die Flügel bekommen. Bei einigen Landtagswahlen hat sie zwar beachtliche Wahlergebnisse erzielt, aber mittlerweile liegt sie bundesweit wieder deutlich unter zehn Prozent. Ich habe nicht die Befürchtung, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung beeindrucken lässt durch falsche Fakten oder durch eine Politik, die mehr Emotionen bedient als mit Argumenten zu überzeugen weiß.

(Foto: Manfred Esser/CDU Rheinisch-Bergischer Kreis.)

Da spielen wahrscheinlich auch die neuen Medien eine Rolle. Egal was passiert, es wird wahnsinnig schnell transportiert.

Wolfgang Bosbach: Das ist der Unterschied zu vergangenen Zeiten. Falschmeldungen hat es zu allen Zeiten der Menschheit gegeben. So wurden immer mehr Falschmeldungen in Umlauf gebracht, nachdem die Buchdruckkunst erfunden worden war. Weil man sich auf einmal nicht mehr auf den Marktplätzen treffen musste, um Meinungen auszutauschen, denn durch Druckerzeugnisse gab es jetzt die Möglichkeit, eine Vielzahl von Personen mit bescheidenen Mitteln zu erreichen. Durch das Internet und die sozialen Medien sind die Möglichkeiten heute noch viel, viel größer als in der Vergangenheit. Es gibt ja immer noch den Satz: „Das muss stimmen, denn das habe ich ja gelesen.“ Früher hieß es: „Das hat in der Zeitung gestanden, so muss es richtig sein, sonst hätte es ja nicht in der Zeitung gestanden.“ Heute heißt es: „Das habe ich im Internet gelesen, so muss es stimmen, sonst hätte es ja nicht im Internet gestanden.“ Aber im Internet werden eben nicht nur zutreffende Zahlen, Daten und Fakten publiziert, sondern auch grobe Unwahrheiten.

Das erschwert natürlich auch Ihre Aufgabe als Abgeordneter, oder?

Wolfgang Bosbach: Die Fehlerkorrektur wird immer schwieriger, weil sich diese Nachrichten in Windeseile verbreiten.

Da ist die Frage: Aussitzen? Oder versuchen zu dementieren?

Wolfgang Bosbach: Wenn wir in Briefen auf tatsächliche oder vermeintlich skandalöse Zustände hingewiesen werden, dann versuche ich immer zu recherchieren, ob diese Behauptungen richtig sind oder nicht. Manchmal sind sie es tatsächlich, in einer Vielzahl von Fällen sind sie es aber nicht. Dann kennt man auch schnell die Quelle, die das in Umlauf gebracht hat und man ahnt, warum das geschehen ist, aber das ist natürlich nur bei ganz wenigen sogenannten Fake News möglich. Man kann nicht als Abgeordneter hinter allem her hecheln, was an Falschmeldungen im Umlauf ist.

Jetzt wurde ja in der Türkei das Referendum abgehalten, pro Erdogan. Müsste die Bundesregierung bzw. die EU jetzt nicht klar Stellung beziehen?

Wolfgang Bosbach: Bundesaußenminister Gabriel hat ja schon Stunden nach Bekanntgabe des Ergebnisses verkündet, man müsste jetzt ruhig und besonnen bleiben. Ich kenne auch keinen der unruhig und unbesonnen sein möchte, aber wenn mir der Außenminister sagt, ruhig und besonnen bleiben, heißt das übersetzt: „Wir tun einfach so, als wäre nichts geschehen und machen weiter wie bisher.“ – Und das kann meiner Überzeugung nach nicht die richtige Antwort auf das Referendum sein. Die Europäische Union sollte so rasch wie möglich laut und deutlich sagen: „Und damit ist das Kapitel ‚Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei‘ beendet!“

Kann die Kanzlerin da nicht ein Machtwort sprechen?
Wolfgang Bosbach: Die Verhandlungen finden nicht zwischen Deutschland und der Türkei statt, sondern zwischen der Europäischen Union und der Türkei.

Durch die Terroranschläge des IS in Berlin oder Paris haben die Bürger Angst. Diese Angst wird geschürt, auch durch die Zuwanderung von Flüchtlingen. Wie schafft man es, den Menschen diese Angst zu nehmen?

Wolfgang Bosbach: Eine vernünftige Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und dazu gehört, dass man Probleme nicht ignoriert oder tabuisiert, sondernd offen anspricht, aber ohne Panik zu schüren, und indem man gleichzeitig darauf hinweist, welche Anstrengungen unternommen werden, um Deutschland vor der terroristischen Gefahr sicherer zu machen. Wir haben zurzeit etwa 600 Gefährder in Deutschland.

Weiß man, wer das ist?

Wolfgang Bosbach: Ja.

Warum werden diese Menschen nicht verhaftet?

Wolfgang Bosbach: Weil sie noch keine schweren Straftaten begangen haben. Wenn sich jemand um den Ankauf von Sprengstoff bemüht oder um den Ankauf eines Zünders, wenn jemand ständig Kontakt zu anderen, als gefährlich geltenden Personen hat, dann kann man schon den Schluss ziehen, dass hier eine erhebliche Gefahr droht. Aber alleine das Bemühen des Ankaufs von Sprengstoff ist kein Straftatbestand, wegen dem man jemanden strafrechtlich verfolgen und verurteilen kann. Wir haben über 20 vom Kaliber Anis Amri, die wir zum Teil mit einem erheblichen Aufwand an Personal und Technik rund um die Uhr bewachen müssen. Aber es gibt eine deutliche Trendumkehr bei der Polizei: Die Phase eines doch flächendeckenden Personalabbaus bei der Polizei ist wohl beendet. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir mehr Stellen für die Polizei brauchen, dass die Polizei eine bessere technische Ausstattung braucht, aber auch das notwendige rechtliche Instrumentarium, um Gefahren rechtzeitig erkennen und abwehren zu können. Trotz einer erheblichen und besorgniserregenden Bedrohungslage gehört Deutschland immer noch zu den sichersten Ländern der Welt.

Ich denke, wenn jemand was machen will, ist es auch kein Problem das durchzuführen, siehe Berlin.

Wolfgang Bosbach: Hundertprozentige Sicherheit kann der Staat, bei allen Anstrengungen, nicht garantieren. Aber das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass er nicht alle Anstrengungen unternimmt, um die Menschen vor Kriminalität besser zu schützen.

Jetzt habe ich eine persönliche Frage: Sie sind ja schon sehr lange im Bundestag aktiv. Wie hat sich denn in den letzten 20 Jahren die Arbeit des MDBs verändert?

Wolfgang Bosbach: Es wird ja oft behauptet, dass sich durch den Umzug von Bonn nach Berlin die Politik grundlegend verändert habe, aber da bin ich befreit von romantischen Anwandlungen. Wenn der Bundestag in Bonn geblieben wäre, dann wäre die politische Arbeit heute auch nicht mehr die Gleiche wie in den 70er oder 80er Jahren. Durch die Wiedervereinigung, die Internationalisierung, die Globalisierung, die modernen Medien hat sich die politische Arbeit völlig verändert und sie hätte sich auch verändert ohne den Umzug nach Berlin. Heute ist vieles hektischer als in der Vergangenheit. Was morgens die Topmeldung ist, kommt möglicherweise abends in der Tagesschau schon gar nicht mehr vor. Und wir neigen in Deutschland traditionell zur Dramatisierung. Dabei muss man mal, auch im internationalen Vergleich, nüchtern feststellen: Nicht alles, was schiefläuft, ist ein Skandal und nicht jedes Problem ist eine Katastrophe.

Von Seiten der Medien wird es immer so dargestellt, dass keiner der Abgeordneten im Plenarsaal ist.

Wolfgang Bosbach: Das ist eine häufig gestellte Frage, warum der Plenarsaal so leer ist. Am häufigsten gestellt wird diese Frage im Gespräch mit Besuchergruppen. Und dann sage ich immer: „Wenn sie möchten, dass der Plenarsaal voller wird, brechen wir das Gespräch an dieser Stelle ab und ich setze mich in den Plenarsaal.“ Und dann rufen alle: „Schön hiergeblieben!“ Das Problem ist, dass die parlamentarische Arbeit während der Sitzungen des Deutschen Bundestags weitergeht. Auch ich sitze nicht immer im Plenarsaal, sondern in der Regel dann, wenn große Debatten stattfinden, z. B. über den Kanzlerhaushalt, das ist ja die zentrale Parlamentsdebatte eines Jahres, oder bei innenpolitischen Debatten. Aber ich kann nicht von morgens bis abends im Plenarsaal sitzen, weil ansonsten die übrige Arbeit liegen bliebe. Ich kann Bürgerpost bearbeiten oder im Plenarsaal sitzen, aber nicht beides gleichzeitig machen.

Die politischen Zusammenhänge sind heute so komplex, dass man sie als Ottonormalverbraucher gar nicht mehr verstehen kann. Dadurch entstehen wieder Halbwahrheiten, diese werden verbreitet …

Wolfgang Bosbach: Oftmals ist die Halbwahrheit das größere Problem als die komplette Unwahrheit. Die klassische Lüge kann man schnell enttarnen. Bei der Halbwahrheit ist es schwierig, denn oftmals ist der Teil, der nicht mitgesendet oder nicht mitgedruckt wird, der entscheidende. Das heißt, das, was da steht, ist isoliert betrachtet richtig, aber es fehlen wesentliche Informationen, um den gesamten Sachverhalt beurteilen zu können. Deswegen ist es ja so wichtig, dass wir Politiker da für Aufklärung sorgen, und zwar mit einer Sprache, mit der wir auch verstanden werden. Ich sag mal so: Nicht alles in der Politik ist wirklich kompliziert. Und nicht jeder, der sich klar ausdrückt, ist ein tumber Tor und nicht jeder, der total kompliziert formuliert, ist ein Intellektueller. Aber es gibt auch manche Sachverhalte, die sind tatsächlich schwierig. Die kann man nicht mit einfachen Worten erklären. Da braucht man Zeit.

Ist das nicht auch eine Frage der politischen Bildung? Sollte die Politik nicht versuchen, den Menschen Sachverhalte so nahe zu bringen, dass sie sie auch verstehen?

Wolfgang Bosbach: Die Parteien haben eine Bringschuld. Das stimmt. Und ich weiß auch, dass die Distanz zwischen Wählern und Gewählten in den letzten Jahrzehnten immer größer geworden ist. Aber politisches Interesse sollte man schon mitbringen. Man muss auch bereit sein, Zeit und Kraft zu opfern und sich für ein bestimmtes Thema wirklich zu interessieren. Wenn es an Interesse fehlt, dann können wir noch so viele Angebote machen, wie wir wollen.

Wir sind ein Zeitungsverlag, ein kleiner mittelständischer Betrieb mit 15 Mitarbeitern und 200 Austrägern. Die Einführung des Mindestlohnes bzw. die Handhabung des Mindestlohns ist für Verlage wie uns eine Katastrophe.

Wolfgang Bosbach: Wem sagen Sie das! Es hat mit keiner anderen Branche, das gilt auch für mich persönlich, so viele Gespräche gegeben, wie mit den Zeitungsverlagen, die ja genau dieses Problem haben. Denn wenn der eine Austräger für 1.000 zugestellte Exemplare zwei Stunden braucht und der andere vier Stunden für die gleiche Anzahl, dann hat derjenige, der vier Stunden gebraucht hat, zwar langsamer gearbeitet, hat aber am Ende die doppelte Vergütung. Das muss man allerdings uns Politikern nicht sagen, denn für uns war schon interessant zu beobachten, dass die Verleger und die Herausgeber in der obersten Etage erhebliche Bedenken gegen die Einführung des Mindestlohns hatten, während im zweiten Stock die Redaktionen fleißig für den Mindestlohn geworben haben.

Das hat zur Folge, dass man Leute, wie z. B. Rentner, die fünf, sechs Jahre die Zeitung ausgetragen haben, entlassen muss, weil sie halt nicht mehr so gut zu Fuß sind. Das tut einem ja weh.

Wolfgang Bosbach: Das sind alles, glauben Sie mir, Kollateralschäden, die aber tabuisiert werden, weil der Mindestlohn ja eine gute Sache ist. Weil niemand in Beschäftigung in die Armut abrutschen soll. Deswegen ist der Mindestlohn eine gute Sache und die Probleme, die damit verbunden sind, werden allerdings tabuisiert.

Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, der Mindestlohn ist auch eine gute Sache, aber von 8,50 Euro kann auch keiner leben. Und für die Leute im Nebenerwerb ist es katastrophal.

Wolfgang Bosbach: Das wird ja häufig übersehen, dass viele in dieser Gehaltskategorie im Nebenerwerb arbeiten. Weil sie daneben einen anderen Verdienst haben oder weil sie Rente beziehen. Aber uns Politikern muss das keiner sagen. Wir wissen das. (eis/yv)