Am 24. September steht in Deutschland die Bundestagswahl an. In diesem Wahljahr nutzte Markus Eisel die Chance und traf sich mit diversen Politikern verschiedenster Parteien, um mit ihnen über die politische Situation in Deutschland zu sprechen. 

Welches Resümee ziehen Sie nach den vergangenen Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen?

Oskar Lafontaine: Die Landtagswahlen sind für uns nicht so ausgegangen, wie wir uns das gewünscht haben. Aber wir haben auch dort, wo wir leider nicht in den Landtag gekommen sind – in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen – die Stimmen verdoppelt. Das ist durchaus eine Ermutigung für die Bundestagswahl. Und im Saarland haben wir 12,8 Prozent erreicht, wir kamen in den Schulz-Hype hinein, das heißt, die SPD ist etwas stärker geworden, aber auch 12,8 Prozent werden ja bei den Grünen und der FDP immer bejubelt – insofern sind wir damit nicht unzufrieden.

Markus Eisel traf Oskar Lafontaine (links). (Foto: privat)

Apropos Martin Schultz: Er steht ja nun nicht gerade für besonders linksgerichtete Politik, sondern eher für den Mitte-Rechts-Flügel der SPD. Im Falle einer rot-rot-grünen Koalition müssten Sie sicher sehr viele Überzeugungen über Bord werfen, oder? 

Oskar Lafontaine: Keiner der Beteiligten kann zu viele Überzeugungen über Bord werfen, das können wir von anderen nicht verlangen und das können  andere umgekehrt von uns auch nicht verlangen. Wir sind im Vergleich zur SPD und den Grünen an zwei Stellen grundsätzlich anderer Meinung: Erstens, wir halten die Agenda 2010 und den damit verbundenen Sozialabbau für falsch. Beweis: 40 Prozent der Deutschen haben heute weniger Kaufkraft als 1999. Und zweitens, wir halten die Beteiligung der Bundeswehr an völkerrechtswidrigen oder überhaupt an Interventions-Kriegen für verantwortungslos.

Aktuell spielt der Begriff „Gerechtigkeit“ im Wahlkampf – vor allem von Herrn Schultz – eine große Rolle. Ich persönlich kann damit aber wenig anfangen, es ist nicht greifbar.

Oskar Lafontaine: Ja, jeder versteht natürlich etwas anderes darunter. Deswegen ein konkretes Beispiel: Am Anfang hat Martin Schultz gesagt, er möchte die befristeten Arbeitsverträge deutlich reduzieren. Hier sehen Sie, was die SPD falsch macht. Sie redet seit vielen Jahren davon, aber jetzt, wo sie es machen könnte, macht sie es nicht. Und zwar auf zweifache Weise: In der Bundes- und in den Länderregierungen gibt es sehr viele befristete Arbeitsverhältnisse mit Zustimmung der SPD. Unser Angebot, jetzt im Bundestag mit der vorhandenen rot-rot-grünen Mehrheit zu beschließen, diese Arbeitsverträge zurückzuführen, nimmt die SPD nicht auf. Sie macht also Versprechungen und handelt nicht. Glaubwürdigkeit gewinnt sie aber nur durch konkretes Handeln!

Wie sehr sind Sie denn im Herzen noch ein Sozialdemokrat? Ist für Sie der Wechsel zur Linken ein Kompromiss gewesen?

Oskar Lafontaine: Dieses Gespräch führen viele Sozialdemokraten mit mir und ich sage immer: „Ich bin im Programm geblieben, ihr seid ausgetreten.“ Ich kann das am Beispiel Willy Brandts festmachen: Er hätte nie zugelassen, dass wieder deutsche Truppen an der russischen Grenze stehen. Sein Lebenswerk war die Versöhnung und der Ausgleich mit dem Osten.

Die weltpolitische Lage hat aktuell ja auch direkten Einfluss auf das Thema „innere Sicherheit“. Das war bei der Wahl in NRW eines der wichtigsten Themen. Die Vorzeichen für die Bundestagswahl haben sich geändert …

Oskar Lafontaine: Es gab ja jahrelang die „Herrschaft der Schwarzen Null und der Schuldenbremse“. Unter dieser Herrschaft wurde überall Personal abgebaut – auch bei der Polizei . Wir haben das immer kritisiert. Jetzt haben sie eingesehen, dass das der falsche Weg ist und erklären alle, sie wollen Polizeibeamte wieder einstellen. Was nach der Bundestagswahl dann geschehen wird, muss man abwarten. Aber das ist die Hauptaufgabe bei diesem Thema: Wir können die Polizei nicht kaputt sparen, gerade aufgrund der heutigen Herausforderungen, deswegen ist eine personell und technisch gut ausgestattete Polizei die richtige Antwort auf die heutige Zeit. Es ist natürlich auch sinnvoll an bestimmten Brennpunkten Videoüberwachung einzuführen oder auch andere Mittel einzusetzen, aber entscheidend ist, dass genug Polizisten da sind. Technische Einrichtungen verhindern keine Straftat – das hat man am Fall Amir gesehen – es sind die Polizeibeamten!

Gerade wird auch darüber diskutiert, wie Steuereinnahmen eingesetzt werden sollten. Wie sehen Sie das: Sollten die Einnahmen zuerst für Sicherheit eingesetzt werden, bevor man über Steuererleichterungen nachdenkt?

Oskar Lafontaine: Wir sind sowohl für Steuererleichterungen als auch für Steuererhöhungen: Erleichterungen für die große Mehrheit, also für alle, die im Monat weniger als 7.000 Euro verdienen. Steuererhöhung für Millioneneinkommen, Vermögen und Erbschaften. Das ist unsere Antwort. So können wir die Kaufkraft der Bevölkerung verbessern und gleichzeitig auch mehr Polizisten und Lehrer bezahlen.

Die 7.000-Euro-Bemessungsgrenze – gilt das für ein Paar oder für Einzelpersonen?

Oskar Lafontaine: Für den Einzelnen.

Viele fordern ja, dass Besserverdiener höher besteuert werden sollen, aber ab wann man ein Besserverdiener ist, wird selten eindeutig festgelegt. 7.000 Euro ist durchaus nicht wenig … 

Oskar Lafontaine: Wir haben im Bundestag, als ich Fraktionsvorsitzender war, Steuererleichterungen für die mittleren Einkommen vorgeschlagen – Stichwort „Beseitigung des Steuerbauchs“ – aber die anderen Parteien haben das immer abgelehnt. Allerdings wissen davon nur wenige Menschen, weil die Leute glauben, die Linke stehe eher für Steuererhöhungen. Unsere Vorschläge  würden auch den kleinen Betrieben helfen, da diese alle im Einkommenssteuertarif sind.

Als Redner im Landtag. (Foto: Linksfraktion im Saarländischen Landtag)

Die kleinen Betriebe haben heutzutage viel zu leiden. Das Thema Mindestlohn betrifft vor allem die Kleinen, größere Firmen haben damit weniger zu tun. Ich glaube, der Grundgedanke ist richtig, aber bei der Umsetzung sind viele Fehler gemacht worden. 8,50 Euro oder 8,90 Euro als Mindestlohn ist eigentlich viel zu wenig! Aber gerade in unserer Branche – speziell bei den Austrägerlöhnen – ist es fast nicht bezahlbar für kleine Verlage. Wenn ein Rentner sich etwas dazuverdienen möchte, fällt er in den Bereich des Mindestlohns.

Oskar Lafontaine: Das wäre heute alles kein Problem, wenn nicht so viel Missbrauch betrieben worden wäre. Früher war es ja kein Problem, wenn ein Rentner sich was dazuverdienen wollte. Aber in den letzten Jahren sind aus Millionen von sicheren Arbeitsplätzen Millionen unsichere Arbeitsplätze gemacht worden. Der Gesetzgeber musste eingreifen, um diesem Wildwuchs des Missbrauchs entgegenzutreten.

Der demokratische Wandel in unserer Gesellschaft ist unaufhaltbar. Das Thema Altersarmut ist sehr präsent. Wie wollen Sie dem entgegenwirken?

Oskar Lafontaine: Indem ich rate, sich so zu verhalten wie die weniger guten Schüler es in der Klasse gemacht haben: Sie haben bei denen abgeschrieben, die besser waren. Und besser macht es beispielsweise unser Nachbar Österreich. Da hat ein Durchschnittsrentner 800 Euro mehr im Monat – das glaubt man kaum, aber es ist tatsächlich so. 800 Euro mehr! Dort zahlen die Arbeitgeber etwas mehr als die Arbeitnehmer, das ist eine Besonderheit des Systems, und alle zahlen ein. Das heißt, sie haben die Basis der Leute, die einzahlen deutlich verbreitert. Das System funktioniert. Also sollten wir von dem Nachbarn, der in dieser Sache besser arbeitet, abschreiben.

Warum ist das denn nicht so publik? Die Medien? 

Oskar Lafontaine (lacht): Die Frage ist ja,  was muss man machen, dass ein Thema von den Medien überhaupt mal aufgegriffen wird, gerade bei der ganzen Überflutung der Öffentlichkeit mit Reiz-Themen.

Wie hat sich denn die politische Arbeit in den letzen 20 Jahren geändert – auch durch die technischen Fortschritte, digitale Medien? Gerade der rechte Parteienflügel setzt sehr stark auf soziale Medien.

Oskar Lafontaine: Meine Beobachtung ist die, dass alle Parteien versuchen die sozialen Medien zu nutzen, aber dass dort, also bei der AfD, mit viel mehr Geld geworben wird. Geld, das beispielsweise die Linke nicht zur Verfügung hat. Es ist ja überhaupt interessant, dass die AfD von Gruppen finanziell unterstützt wird, die nicht öffentlich in Erscheinung treten, was eigentlich nach dem Parteiengesetz verboten ist. Aber die sozialen Medien können eine Korrektur zum Einheitsbrei der medialen Berichterstattung sein.

Die Linke ist aus vielen Vorgängerparteien gewachsen, WASG, PDS, SED … Was entgegnen Sie denn jemanden, der immer noch sagt, die Linke sei eine Nachfolgepartei der SED? 

Oskar Lafontaine: Dann sage ich, dass dies üble Nachrede ist. Wir sitzen hier im saarländischen Landtag, hier waren über die Hälfte der CDU-Fraktion nach dem Krieg Mitglieder der
NSDAP. Deswegen hat keiner die CDU als Nachfolge-Organisation der NSDAP bezeichnet.  Heute  sind 28 Jahre nach dem Fall der Mauer vergangen.  Viele, die bei uns Mitglied sind, lagen damals noch in den Windeln. Insofern glaube ich, dass das Thema allmählich langweilig wird. Sie sehen das ja auch an mir, ich gehöre zu den Gründern der neuen Partei und man kann durchaus anderer Auffassung als ich sein, aber zu versuchen, mich in die Nähe einer SED zu  rücken, ist absurd. Im Gegensatz zu mir war Frau Merkel Sekretärin für Agitation und Propaganda der SED-Jugendorganisation – also weitaus näher bei der SED. Aber das wird von den kanzlertreuen Medien kleingebügelt.

Was denken Sie, woran es liegt, dass rechtspopulistische Strömungen seit einiger zeit so großen Zulauf haben? Es gab ja auch in der Vergangenheit immer wieder Protest-Bewegungen und -Parteien aus allen Richtungen – die Grünen, die Piraten. Kann man daraus auf eine Verfehlung der etablierten Politik schließen? 

Oskar Lafontaine: Wenn neue Parteien groß werden, egal ob rechts oder links, dann kann man sagen, dass die herrschende Politik Fehler gemacht hat. Und die AfD ist ja erst richtig groß geworden, als die Bundeskanzlerin eine Flüchtlingspolitik betrieben hat, die chaotisch war – so muss man das einfach sagen. Die Entscheidungen waren nicht mit den europäischen Nachbarn abgestimmt. Viele Fragen wurden nicht beantwortet. So konnte die AfD das Thema besetzen. Mittlerweile betreibt die Bundeskanzlerin eine Flüchtlingspolitik, die das Gegenteil von dem ist, was sie am Anfang gemacht hat. Sie hat den rücksichtslosen Diktator Erdogan als Türsteher angeworben, um die Flüchtlinge draußen zu halten. Damit ist alles gesagt.

Was sollte sie stattdessen machen? 

Oskar Lafontaine: Ich bin seit vielen Jahren für eine Steuerung der Zuwanderung. Bei der Flüchtlingsthematik bin ich dafür, den Schwächsten zu helfen. Die Schwächsten, das sind die Millionen, die in den Lagern leben und es sind die, die in Afrika verhungern und daher keine Möglichkeit mehr haben, nach Europa zu kommen. Der evangelische Theologe Prof. Schröder hat darauf hingewiesen, dass wir nicht übersehen können, dass meistens diejenigen hierher kommen, die jung und stark sind und 7.000 Euro für die Schlepper bezahlen können. Das heißt: Den Armen, den Kranken und den Hungernden hilft man nicht. Es ist natürlich völlig klar, dass wir Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen und Asyl gewähren müssen, aber die Grundüberzeugung der Linken ist, das man denen helfen muss, denen es am schlechtesten geht. Und man kann das an den Lagern zeigen: Wenn man das viele Geld, das wir für die Unterbringung der Menschen hier aufwenden, in die Hand genommen hätten, um die Lage vor Ort zu verbessern, dann hätten wir Millionen geholfen und es hätten sich wahrscheinlich weniger auf den auch gefährlichen Weg nach Europa gemacht.

Wir leben an der Grenze zu Frankreich. Frankreich hat sich für Macron entschieden. Überall gibt es nationalistische Bewegungen. Warum schafft es die Politik nicht, die EU als Friedensstifter ins Bewusstsein zu schieben?

Oskar Lafontaine: Die EU war ja nach dem Krieg, als wir aufgewachsen sind, sehr beliebt in der Bevölkerung, weil sie ein Friedensprojekt war. Im Laufe der Entwicklung traten die wirtschaftlichen Fragen in den Vordergrund. Und vor allem in den letzten Jahren entstand der Eindruck, dass Wirtschaftsinteressen und Interessen der Banken mehr Gewicht in der EU haben als die Interessen der Menschen in den Mitgliedsstaaten. Und im Zuge dieser Veränderungen ist die EU – nicht Europa! Das muss man ja unterscheiden – in zunehmendem Maße in die Kritik geraten. Diese Kritik halte ich auch für notwendig, denn wir wollen kein Europa der Banken und Konzerne, wir wollen ein soziales und demokratisches Europa, in dem das Wohlergehen der Menschen im Mittelpunkt steht.

Man kann aber ja diese Punkte kritisieren und trotzdem die andere Seite belobigen! Das fehlt aber im Diskurs rund um die EU. Gerade im Hinblick darauf, dass das politische Bewusstsein darüber, was in den letzten 70 Jahren passiert ist, immer weniger wird. Der Ursprungsgedanke der EU gerät in Vergessenheit – und so entstehen nationalistische Bewegungen. 

Oskar Lafontaine: Ja, denn nationalistische Bewegungen entstehen dann, wenn die Leute den Eindruck haben, dass ihre Interessen nicht mehr vertreten werden. Und deshalb ist die Politik der EU Ursache für das Erstarken der nationalistischen Bewegung – aber auch die Politik Deutschlands. Denn die Deutschen haben ihre Interessen in Europa durchgesetzt und  betreiben Lohndumping. Deutschland hat seine Löhne weniger erhöht als andere europäische Staaten. Das verschafft natürlich preisliche Vorteile und deshalb hat Deutschland Handelsüberschüsse gegenüber allen anderen. Und da die Handelsüberschüsse bezahlt werden müssen, führt das automatisch zur Verschuldung der anderen Länder. Aber das entscheidende ist: Wer große Exportüberschüsse hat, exportiert Arbeitslosigkeit. Denn das, was er den anderen liefert, wird ja dort nicht mehr produziert. Dieser Zusammenhang wird leider in der deutschen Diskussion nicht gesehen.

Ich würde mir trotzdem wünschen, dass jemand mal sagt, dass die EU immer noch der Friedensstifter ist, auch wenn wir was ändern müssen. Aber das Thema Frieden sollte doch wieder präsenter gemacht werden.

Oskar Lafontaine: Wir müssen nicht nur für den Frieden eintreten, sondern auch für Demokratie und Sozialstaat. Demokratie und Sozialstaat sind die Fundamente Europas. Und diese sollte man nicht beschädigen. Aber was man jetzt in Südeuropa macht, wo die Regierungen praktisch entmündigt werden, weil ein paar Beamte der EU-Kommission sagen, was dort zu geschehen hat, das führt nicht dazu, dass die Menschen in der EU eine Institution sehen, die sie unterstützen wollen. Das kann man wohl nachvollziehen.

Leben wir denn in einem Sozialstaat? 

Oskar Lafontaine: Wir haben einen Sozialstaat in Deutschland. Aber er ist durch die Agenda 2010 stark demoliert worden. Ich habe ja vorhin zwei Zahlen genannt: In Österreich hat ein Rentner im Schnitt 800 Euro im Monat mehr und 40 Prozent der deutschen Bevölkerung haben heute weniger Kaufkraft als  1999. Man kann aber auch den ganzen Katalog vorbeten: Leiharbeit, Werkverträge, befristete Arbeitsverträge, usw. Das gab es früher alles nicht und die Wirtschaft funktionierte trotzdem. Es hat sich eine totale Veränderung im Denken durchgesetzt, die ich so beschreiben möchte, dass der Gewinn alles ist, und der Mensch nur noch eine Kostenstelle.

Da kann ich nicht widersprechen. Auch wenn ich als Arbeitgeber das anders lebe. Gerade in kleinen Betrieben, steht der Mensch im Vordergrund, denn nur wenn der Mitarbeiter zufrieden ist, ist er auch motiviert. 

Oskar Lafontaine: Ja, in diesem Bereich ist der kleine Betrieb durchaus Vorbild.

Aber es wird halt wahnsinnig viel Politik für die Großkonzerne gemacht. 

Oskar Lafontaine: Klar, der Großkonzern hat auch das „große Geld“ und beeinflusst so die Politik.

Und dabei zahlen sie oft nicht mal Steuern und bringen sich auf kommunaler Ebene kaum ein. Klar, sie schaffen Arbeitsplätze, aber das war es dann auch. Kommen wir noch kurz zur Bundestagswahl: Wagen Sie in diesen unsicheren Zeiten eine Prognose?

Oskar Lafontaine: Da gibt es eine einfache Regel: Man kann Prognosen nur aufgrund des Status quo geben, weil man unvorhergesehene Ereignisse nicht vorwegnehmen kann. Wenn also nichts Unvorhergesehenes geschieht, wird entweder die große Koalition fortgesetzt – oder es gibt schwarz-gelb oder Jamaika, weil die SPD bis zum heutigen Tag nicht begriffen hat, dass sie wieder eine sozial-demokratische Partei werden muss, wenn sie mit der CDU gleichziehen oder sie wie früher überholen will.

Es ist ja tatsächlich so, dass diese Trends zwei, drei Wochen später schon wieder ganz anders aussehen können. Diese schnelle Meinungsmache, die sich so durchgesetzt hat, hätte man die bekämpfen können? Wie könnte man das auch im Hinblick auf die Bundestagswahl in den Griff bekommen? 

Oskar Lafontaine: Ich habe dafür keine perfekte Antwort. Wir haben ja in NRW gesehen, dass nach dem Schulz-Effekt die SPD erstmal nach oben ging. Dann nahm der Effekt, der vor allem ein Medien-Hype war, langsam wieder ab und gegen Ende ist er gekippt. Ich könnte jetzt sagen, die Medien müssen seriöser werden …

… aber wie schnell so ein Trend überhaupt entsteht! Woran liegt das? 

Oskar Lafontaine: Wenn Sie nach Ursachen fragen, würde ich sagen, dass hinter dem, was Sie beschreiben, die Erfahrung der Menschen steht, dass ja sowieso alles gleich bleibt. Viele Menschen glauben, es ändere sich ja sowieso nichts. Das heißt, die Partei-Bindung in der Form, dass ein starkes Vertrauen zu einer bestimmten Partei da ist, gibt es nicht mehr. Erst recht gibt es keine kulturelle Bindung mehr zu den Parteien, wie es zu meiner Jugendzeit noch üblich war. Es gibt beispielsweise keine Arbeitervereine mehr. Und wenn die Leute diese Bindung nicht mehr haben, weil sie so oft enttäuscht worden sind durch gebrochene Wahlversprechen, dann ist natürlich die Wanderung zwischen den Parteien sehr schnelllebig und dynamisch.

Haben Sie nach so vielen Jahren Politik-Erfahrung in verschiedenen Parteien, als Kanzlerkandidat, Minister und so weiter auch manchmal Déjà Vus? 

Oskar Lafontaine: Bei Martin Schulz beispielsweise ist mein Déjá Vu, dass er ein perfektes Beispiel für das so genannte Tontaubenschießen ist. Das heißt, ein Politiker wird hochgeschrieben und gelobt die Tontaube ist dann oben, und dann fängt man an zu schießen, um sie runterzuholen. Das ist eines meiner Déjà Vus. Aber eins, was mich viel mehr beschäftigt, ist, dass die SPD, deren Vorsitzender ich ja war, die Denk-Traditionen, für die die Partei Willy Brandts stand, aufgegeben hat, und vor jeder Wahl so tut, als würde sie diese Denk-Traditionen wieder beleben. Aber dann, sobald es ernst wird, macht sie das Gegenteil.

Lehnen Sie sich in solchen Moment manchmal zurück und schmunzeln?

Oskar Lafontaine: Nein, dafür bin ich zu engagiert. Ich schmunzle nicht, wenn ich weiß, dass es so viele Menschen gibt, die Probleme im Leben haben. Als Politiker verliert man manchmal den Blick dafür. Man muss sich anstrengen, um zu erfassen, was da eigentlich geschieht. Man muss sich informieren. Vor allen Dingen darf man eines nicht verlieren: das Gefühl für die Lebenssituation anderer.

Glauben Sie, dass sich die Politik vom normalen Leben ein wenig entfernt hat? 

Oskar Lafontaine: Ja, sicher. Das ist aber ein normales, gesamt-gesellschaftliches Verhalten. ‚Das Sein bestimmt das Bewusstsein’, das sagte schon  Karl Marx. In dem Moment, in dem man nur noch auf Steh-Empfängen in Berlin rumläuft, verliert man leicht aus dem Auge, was man dann sehen kann, wenn man beispielsweise bei Aldi einkaufen geht und genau hinschaut und feststellt, wie eingeschränkt viele Leute heute leben müssen. (eis/hea / Titelfoto: Linksfraktion im Saarländischen Landtag)

Oskar Lafontaine: Politischer Werdegang

1985 bis 9. November 1998 Ministerpräsident des Saarlands
Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl im Dezember 1990 und von 1995 bis 1999 SPD-Vorsitzender
September 1998 Übernahme des Bundesministeriums der Finanzen im Kabinett Schröder
März 1999 Niederlegung aller politischen Ämter
2005 Wechsel zur neu gegründeten Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG)
Juni 2005 Wahlbündnis mit der PDS, Umbenennung in Linkspartei PDS
2005 bis 2009 Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion mit Gregor Gysi
16. Juni 2007 bis 15. Mai 2010 Parteivorsitzender der neugebildeten Partei Die Linke (mit Lothar Bisky)
2010 Rückkehr in die Politik nach erfolgreich behandelter Krankheit
Seit Mai 2012 Oppositionsführer der Linken