Steckbrief: Ulrich Noethen

  • Geboren am 18. November 1959 in München.
  • Filme u.a.: Comedian Harmonists (1997), Der Untergang (2004), Hannah Arendt (2012), Charité (2019)
  • Auszeichnungen u.a.: Deutscher Filmpreis (1998), Goldene Kamera (2006), Adolf-Grimme-Preis (2009 und 2010).
  • Noethen sollte ursprünglich die Rolle des Professor Boerne im Tatort Münster spielen.

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Sie sind ein sehr wandelbarer Schauspieler. Verliert man sich sehr in Rollen, wie in der zuletzt abgedrehten Serie „Furia“ oder auch in der des Psychiaters Dr. Jessen aus der Krimireihe „Neben der Spur“?

Ulrich Noethen: Ja, man kann sich verlieren. Und: Nein, ich verliere mich eher nicht und verwechsle mich auch nicht mit meiner Figur. Ich glaube mich ganz gut zu kennen und kann unterscheiden zwischen der Rolle und mir selbst. Es kann trotzdem manchmal sein, dass ich mich frage: Wo stehe ich denn jetzt selbst? Aber auch das konnte ich bis jetzt meistens eindeutig beantworten. 

Ist das ein Prozess, den man im Laufe der Zeit verinnerlicht, sich nicht von den zu spielenden Figuren leiten zu lassen, oder gelingt diese Abgrenzung von Anfang an?

Ulrich Noethen: Ich glaube, dass die ersten Rollen, die einem anvertraut werden, einen besonderen Eindruck hinterlassen. Und ich kann mir schon vorstellen, dass man am Anfang auf Rollen oder Figuren treffen kann, die einen in besonderer Weise rein- und vielleicht auch runterziehen können. Eine gute Ausbildung und eine aufmerksame Umgebung sind meist hilfreich. 

Aber auch die Rolle als Prof. Sauerbruch in „Charité“ verlangt ein Sichhineinversetzen – oder ist alles tatsächlich immer nur eine Rolle?

Ulrich Noethen: Ich glaube, dass ich versuche, solche Rollen mehr aus der eigenen Anschauung heraus zu interpretieren. Ich lese das Drehbuch, höre zu, habe Material gesehen und versuche, mir ein Bild zu machen. Ich frage mich, wie war dieser Mensch, wie ist er mit anderen Menschen umgegangen, was ist mir aus meiner eigenen Erfahrung bekannt –  und immer versuche ich, das auch mit Humor zu betrachten – setze alles zusammen und spiele das dann nach. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die ich sehr bewundere und die zu sehr tiefschürfenden und erstaunlichen Ergebnissen kommen. Aber ich glaube, so einer bin ich nicht. Ich würde es vielleicht als „auf eine mir bekömmliche Art oberflächlich“ bezeichnen. (lacht)

Fühlen Sie sich bei historisch belegten Rollen eher mit dem Schicksal des zu Spielenden verbunden als bei frei erfundenen Charakteren?

Ulrich Noethen: Da habe ich mich früher mehr in der Pflicht gefühlt, oder habe mehr Verantwortungsdruck für die Darstellung eines Menschen empfunden, der sich für diese Art der Darstellung vielleicht bedanken und sich im Grab umdrehen würde. Man gibt ja immer ein Statement, ein Urteil ab. Aber ich habe mich mittlerweile von der Verpflichtung etwas mehr frei gemacht. Die Verantwortung spüre ich immer noch, aber der Umgang damit ist leichter geworden.

In der Kinoverfilmung von Siegfried Lenz‘ Roman „Deutschstunde“ (1968) verkörpert Noethen den Polizisten Jens Ole Jepsen. Die Produktion ist in der ZDFmediathek bis Mittwoch, 10. November, verfügbar.
(Foto: ZDF/Georges Pauly)

Beanspruchen Sie für sich nach dem Studieren des Drehbuchs das Recht, die zu spielende Rolle entsprechend Ihren Eindrücken und Annahmen abzuwandeln, wenn sie für Sie nicht passend erscheint?

Ulrich Noethen:  Nein, ich glaube, das geht nicht. Es muss so etwas wie den Respekt vor der künstlerischen Intention des Drehbuchautors, des Regisseurs geben. Man kann vielleicht in gewissem Umfang in Dialoge eingreifen, wenn es zum Beispiel um Ausdrucksweisen oder eine bestimmte Wortwahl geht, aber ich würde nicht so weit gehen, eine Figur in deren Entwicklung verändern zu wollen. Das ist nicht meine Aufgabe, sondern die des Autors und des Regisseurs. In der Vorbereitung kann man darüber sprechen, wenn einem Entwicklungen nicht folgerichtig erscheinen würden. Es könnte ja auch ein Fehler im Drehbuch sein, der dann behoben werden kann. Oder ich habe einfach nicht oder falsch verstanden, was der Autor gemeint hat – kann auch vorkommen. (lacht) 

In der neuen Thriller-Serie „Furia“, die im November ins Fernsehen kommt, und in dem es um eine rechtsradikale Terrorzelle und um politische und wirtschaftliche Intrigen geht, spielen Sie den Deutschen Brehme, der ja schon etwas undurchsichtig ist … 

Ulrich Noethen: Das ist dramaturgisch so gewollt. Zuerst wissen wir überhaupt nicht, wer der Mann ist, dann stellt sich heraus, dass er in dieser rechten Terrororganisation etwas zu melden hat, keiner weiß aber, ob er nicht vielleicht sogar der Kopf ist … Suspense-Elemente in einer Mini-Serie. 

Glauben Sie, dass aus dieser in der Serie dargestellten Fiktion auch einmal Wirklichkeit werden könnte?

Ulrich Noethen: Ich glaube, es ist erkennbar, dass in den letzten Jahren Terror von rechts immer stärker geworden ist. Wir haben es mit vielen Attentaten und diversen Netzwerken zu tun. Wenn man nebeneinander hält, was von rechts, was von links geschehen ist, überwiegen bei Weitem die Taten der extremen Rechten. Wir haben in Teilen eine Justiz, Verfolgungsbehörden und eine Politik, die auf dem rechten Auge sehbehindert oder sehunwillig, wenn nicht schon blind ist. Das ist zum Teil strukturell bedingt, zum Teil geschieht es aus Angst vor der Auseinandersetzung. Oder, wie man befürchten muss, auch aus Überzeugung. Gewalt von rechts hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, Gewalt von rechts findet statt und wird auch weiterhin stattfinden. In welchem Ausmaß, liegt an uns. Terror heißt „in Furcht versetzen“. Und genau das ist beabsichtigt. Die Erzeugung von Angst und Unsicherheit. 

Das ist natürlich ein allgemeines Problem in unserer Gesellschaft: der Mangel an Respekt voreinander. Und die Rückkehr zum Humanismus fällt entsprechend schwer. Es beginnt schon in der Art und Weise, miteinander zu kommunizieren und zu diskutieren. 

Ulrich Noethen: Genau. Ich schätze mich glücklich, auf Social Media-Plattformen kaum aktiv zu sein, weil ich mit den negativen Formen dieser Kommunikation, diesen Aufgeregtheiten, wenig anfangen kann. Hate speech, das Sich-gegenseitig-Beschimpfen, Shitstorms und andere widerwärtige Auswüchse. Das ist einschüchternd, aber eben auch Programm. Mit Hass und Brutalität wird versucht, den Gegner einzuschüchtern. Das ist abstoßend. Wie auch die mangelnde Bereitschaft der Internet-Konzerne, den Missbrauch der freien Meinungsäußerung zu unterbinden.

Es wird probiert, schlechte Stimmung zu erzeugen. Das ist Fakt und sehr schlimm. Aber wir schweifen vielleicht etwas vom Thema ab …?

Ulrich Noethen: Nein, eigentlich sind wir damit mitten im Thema. Erstens: Diese Gewalt macht irgendetwas. Und Zweitens: Woher kommt sie? Das ist ein Teufelskreis, der sich selbst befeuert. Man könnte vielleicht versuchen, diesen durch zivilisiertes Verhalten zu durchbrechen oder abzubremsen …

Aber wie Sie schon sagten:  Durch die in sozialen Netzwerken rasend schnell verbreitbaren Halbwahrheiten und die dort gebräuchliche sehr harte Sprache wird der Extremismus noch forciert.

Ulrich Noethen: Man muss sich immer wieder klar machen, dass diese Netzwerke und Plattformen teilweise mit Algorithmen arbeiten, die über die Aufregung der Nutzer erst funktionieren. Wenn einer sich entsprechend aufregt, wird geklickt, und dann geht die Post ab und es zieht Dich immer tiefer rein. Das ist alles schon auf Erregung und das Sich-Aufregen ausgelegt.

Man beobachtet auch im Bundeswahlkampf immer mehr: Es geht nicht mehr um Information und Programme, sondern nur noch um Kleinigkeiten: Was hat wer wann wie gemacht? Aber um Inhalte geht es schon lange nicht mehr.

Ulrich Noethen: Natürlich. Und aus diesen Kleinigkeiten eine Welle der Empörung, sei sie nun echt oder inszeniert, zu machen, ist relativ einfach geworden. Die differenzierte Auseinandersetzung mit den Dingen ist eben schwierig und mühsam, und dazu nehmen sich viele nicht mehr die Zeit.

Haben Sie beim Lesen des Drehbuchs und während des Drehs auch für sich neue Fakten erkannt, wie zum Beispiel in Netzwerken agiert wird?

Ulrich Noethen: Eigentlich nicht. Gedreht wurde im vergangenen Jahr, zu einem Zeitpunkt, als Corona eigentlich dazu geführt hatte, dass auch bei uns in der Branche alles stillstand. Ich war davon ausgegangen, dass ich für den Rest des Jahres drehtechnisch nichts mehr machen würde, da auch ein bereits geplanter Film aus den genannten Gründen verschoben werden musste. Und genau zu diesem Zeitpunkt kam das Angebot, in Norwegen zu drehen. Andere Länder, andere Möglichkeiten. Als später die Deutschland-Teile der Serie gedreht wurden, hatte sich hier bei uns schon wieder einiges beruhigt. In Norwegen war ich noch nie, und einen Film auf Englisch zu drehen, war eine Herausforderung für mich. Und das Drehbuch fand ich okay. So war ich also in der glücklichen Lage, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, meinem Beruf nachzugehen und gleichzeitig Norwegen kennen zu lernen. Und das fand ich toll …

Viele machten sich in der Zeit, in der für viele ein volles oder eingeschränktes Berufsverbot herrschte, Gedanken über sich selbst, den eigenen Lebens- und Berufsweg. Fragten Sie sich auch, ob sie nicht die Rechtswissenschaften weiter hätten studieren sollen, anstatt den Weg des Schauspielers einzuschlagen?

Ulrich Noethen: (lacht) Nein. Mit der Zeit und den Gegebenheiten letztes Jahr hat das nichts zu tun. Natürlich fragt man sich ab und zu: Was wäre, wenn …?  Aber ob das richtig oder falsch war, das Studium damals aufzugeben, weiß ich nicht. 

Also, für mich als Zuschauer war die Entscheidung richtig.

Ulrich Noethen: (lacht) Na, sehen Sie! Dann hab ich ja alles richtig gemacht.