Wie sehen Sie die Chancen der FDP für die Bundestagswahl im September?

Rainer Brüderle: Sehr gut. Wir sind bei den Umfragen zwischen acht und zehn Prozent. Gut, Umfragen sind keine Wahlergebnisse, aber ich bin zuversichtlich, dass es die FDP wieder in den Bundestag schafft. Ich kämpfe jedenfalls kräftig dafür. Die FDP hat eine schwere Zeit gehabt, sich aber wieder voll erholt. In einem großen Land wie Nordrhein-Westfalen bei 18 Millionen Einwohner 
12,6 Prozent zu holen, ist mehr als eine deutlicher Fingerzeig für die Bundestagswahl.

Glauben Sie, dass die FDP wieder über zehn Prozent bekommen könnte?

Rainer Brüderle: Ich lege mich auf Zahlen nicht fest, aber mein Gefühl sagt mir, dass es ein sehr anständiges Ergebnis wird.

Dann rechnen Sie auch mit einer Regierungsbeteiligung?

Rainer Brüderle: Das wichtigste ist erst einmal, dass die FDP im Bundestag ist, dass sie Gewicht einbringt. Koalitionsspekulationen betreibe ich nicht.

Würden Sie sich noch einmischen?

Rainer Brüderle: In Politik muss man sich immer einmischen. Aber jetzt bin ich in anderen Funktionen. Zum Beispiel als Präsident des Bundes der Steuerzahler in Rheinland-Pfalz, der überparteilich und unabhängig sein muss und ist. Wir mischen uns ein, wenn das Geld des Steuerzahlers nicht richtig verwendet wird. Und dann leite ich in Berlin noch den Arbeitgeberverband des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste.

Zum Thema innere Sicherheit, das ja sicherlich auch im Wahlkampf eine große Rolle spielen wird: Wie schätzen Sie aktuell das Sicherheitssystem Deutschlands ein?

Rainer Brüderle: Ich zitiere den Bundesinnenminister als Fachminister, der sagt, dass die Sicherheitslage noch immer angespannt ist. Darauf gilt es sich einzustellen. Dafür müssen wir aber auch noch Strukturen verändern. Da spricht jetzt nicht nur der Politiker, sondern auch der Präsident des Bundes der Steuerzahler: 
16 Verfassungsschutzämter sind eindeutig zu viel. Sie gehören zusammengelegt. Das muss eine straffe Organisation sein. Wir haben in Thüringen beim NSU-Untersuchungsausschuss gesehen, wie viel dort fehl lief, weil die Kommunikation und der Informationsfluss nicht funktionierten.

Sind wir diesbezüglich geschichtlich geprägt?

Rainer Brüderle: Sicherlich haben wir von unserer Geschichte her in Deutschland immer die Sorge, wenn Dinge zu zentral sind, aber hier muss man eher die Sorge haben, dass, wenn man das übertreibt mit der föderalen Struktur und die nicht richtig zusammenarbeiten, es gefährlich ist für die Bürger. Deshalb gehören die Ämter zusammengelegt. Außerdem bin ich persönlich der Auffassung, dass wir die Polizei verstärken müssen, so sehr wir für einen sparsamen Haushalt im Personalsektor und für Einsparungen sind. Die Sicherheitslage erfordert, die Polizei zu verstärken und zu qualifizieren.

Vorstandsvorsitzender des Bundes der Steuerzahler. (Foto: hea)

Das ist genau der Punkt: Viele Bürger haben Angst. Und die sogenannten Protestparteien bekommen dann wieder Wind in die Segel, weil sie mit Ängsten, Emotionen und Halbwahrheiten spielen. Was halten Sie dagegen?

Rainer Brüderle: Dass es Ängste gibt, ist verständlich und nachvollziehbar. Es gibt keine absolute Sicherheit. Wir wollen ja keine Mauer um Deutschland herum bauen und uns völlig abschotten. Bei relativ offenen Grenzen gibt es immer auch Risiken. Das gilt für alle freiheitlichen Gesellschaften. Es ist aber notwendig, dass der Staat im Rahmen seiner Fürsorgepflicht die innere Sicherheit, genauso wie die äußere Sicherheit, gewährleistet. Das ist eine ureigene staatliche Aufgabe. Man kann über manche Aktivitäten im Wirtschaftssektor streiten, ob das eine staatliche Aufgabe ist. Aber die innere und äußere Sicherheit ist eine ureigene eine staatliche Angelegenheit. Und das ist nicht nur eine Geldfrage oder eine Organisationsfrage. Die Bevölkerung und auch die Politik müssen hinter ihrer Polizei stehen. Es gibt sicherlich mal Einsätze, über die man streiten kann. Aber wo gibt es eine Institution, die nicht mal auch etwas suboptimal macht? Trotzdem müssen die Beamten der Polizei wissen, dass die Bevölkerung hinter ihnen steht. Die Polizei in Deutschland ist gut und sie verdient das Vertrauen der Bürger.

Wenn diese Punkte verbessert werden, haben dann Parteien, wie die AfD, die ja aus den Ängsten gewissermaßen Profit schlagen, weniger Chancen?

Rainer Brüderle: Absolut. Aber man darf auch nicht die Illusion wecken, dass das Risiko null ist. Es kann jeden Tag in einem der westlichen Länder – in Europa oder in Deutschland – etwas passieren. Wir müssen alles tun, um es zu vermeiden, und wenn was passiert, dann müssen wir entsprechend schnell handeln. Aber wer verspricht, „Wir schaffen null Risiko!“, der lügt. Null Risiko gibt es nicht, leider.

Genau das würden die Menschen aber gerne hören…

Rainer Brüderle: Ja, aber das hat keinen Sinn. Politik muss redlich sein, auch wenn es manchmal unangenehm ist. Es zahlt sich mehr aus, die Wahrheit zu sagen. Das sehen Sie ja auch in verschieden Ländern, z. B. in Frankreich, wie es ist, wenn man da plötzlich etwas Neues sucht, weil man den alten Strukturen nicht mehr richtig glaubt. Deshalb empfehle ich dann lieber: „Wenn was ist, Hemd auf, ehrlich mit den Bürgern umgehen.“ Kein Mensch ist frei von Fehlern. Das gilt auch für staatliche Organisationen. Das gilt auch für Parteien. Jeder macht mal Fehler. Entscheidend ist, wie man damit umgeht, wenn Fehler passieren.

Da denke ich an das Beispiel Anis Amri. Er war den Behörden ja bekannt. Auch der Attentäter in Großbritannien war den Behörden bekannt. Trotzdem konnten die Attentäter ihre Anschläge ausführen …

Rainer Brüderle: Das spricht ja dafür, dass man die Geheimdienste enger zusammenarbeiten lassen muss. Das gilt nicht nur weltweit und in Europa, sondern auch in Deutschland. Wir haben noch immer die große Herausforderung, dass wir durch die unkontrollierte Zuwanderung 2015 leider nicht bei allen geflüchteten Menschen die Identität kennen. Das muss sich schnell ändern und hier ist vor allem das BAMF gefordert.

Lassen Sie uns über Europa sprechen: Man kann ja schon sagen, dass Europa in der Krise ist. Die Idee von Europa ist ja eigentlich eine von Frieden und Zusammenleben. Das rückt aktuell sehr in den Hintergrund, zugunsten der wirtschaftlichen Aspekte. Warum wird der Grundgedanke des Friedens nicht wieder mehr in den Vordergrund gestellt, damit in der Bevölkerung wieder mehr Akzeptanz dem europäischen Gedanken gegenüber entsteht?

Rainer Brüderle: Es waren ursprünglich viele Gedanken. Aber der Frieden stand im Vordergrund. Dass man nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder gegeneinanderstehen wollte, dass man zusammenwächst, das war für Deutschland und Frankreich besonders wichtig. Aber es sollte eigentlich noch mehr sein. Zur Aufgabe der Sicherheit und des Friedens gehört auch die Fähigkeit, sich im Notfall verteidigen zu können. Auch das ist ein Stück Friedenssicherung. Leider sind wir in dem Bereich in Europa nicht richtig vorangekommen.

Inwiefern?

Rainer Brüderle: Wir haben keine europäische Verteidigungsgemeinschaft. Wir haben die Nato, die zu einem großen Teil von den Amerikanern finanziert wird. Deshalb sind die Überlegungen für eine gemeinsame europäische Armee gut und richtig. Europa könnte bei gemeinsamem Handeln sicher effizienter in der Verteidigung sein, als wenn jedes einzelne Land vor sich hin wurschtelt.

Gibt es noch andere Aspekte?

Rainer Brüderle: Wir haben zwar eine Währungsunion, aber nicht wirklich eine politische Union. Das führt dazu, dass es wirtschaftliche Schieflagen gibt, die nur durch gemeinsames politisches Handeln korrigiert werden können. Nehmen Sie Vereinbarungen wie Maastricht, die zur Sicherung des Euros gedacht waren. Sie wurden zuerst nicht von Deutschland und Frankreich eingehalten. Daran hat sich dann auch Griechenland ein Beispiel genommen.

Es fehlt also an der Solidarität in Europa?

Rainer Brüderle: In der Frage der Flüchtlingspolitik kann man das klar bejahen. Aber es gibt ja auch die Vorstellung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten. Die, die eine engere Zusammenarbeit wollen, und die, die es eher langsamer angehen. Es sieht danach aus, dass sich die Europäer, wenn auch nur ein Teil der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, zusammenfinden und mehr Gemeinsamkeiten anpacken. Das betrifft die Verteidigung, das betrifft auch die Stabilität des Geldes. Da muss auch die Europäische Zentralbank schrittweise aus der Null-Zins-Politik rausgehen. Ich glaube aber, dass trotz aller Krisen das Bewusstsein, dass wir Europa brauchen, zugenommen hat. Jetzt muss man verstehen, dass Europa mehr ist als eine Idee von Frieden. Dass Europa nur zusammen stark ist und die Herausforderungen der Zukunft, zum Beispiel bei Wissenschaft und Forschung, nur gemeinsam meistern können.

Die Frage ist ja auch, wie man die Bevölkerung so ein bisschen sensibilisiert und nicht nur die negativen Seiten gesehen werden.

Rainer Brüderle: Da haben Sie völlig recht, dass man ehrlich sagt, wir kriegen, z. B. in punkto Klimaschutz, nur die Chance, auch etwas für die nächsten Generationen zu tun, wenn wir jetzt gemeinsam agieren. Wir müssen auch ehrlich sein, da sehe ich auch das Handeln der Bundesregierung nicht als überzeugend. Leider trägt auch manche politische Entscheidung zur Entfremdung von Politik bei. Nehmen Sie mal den Solidaritätszuschlag. Der wurde als eine Ergänzungsabgabe eingeführt. Eine Ergänzungsabgabe ist vom Charakter her eine zeitlich befristete Abgabe. Die Straßen, die u. a. damit in den neuen Ländern gebaut wurden, sind schon bald wieder kaputt und der Solidaritätsbeitrag wird immer noch erhoben. Was ist das für ein Vertrauensbruch an den Menschen in Deutschland?

Also glauben Sie, dass gerade ein kleiner Umbruch stattfindet und die Leute wieder ein bisschen sensibler werden für politische Themen?

Rainer Brüderle: Ein Umbruch findet ohne Frage statt. In Europa und weltweit. Mein Eindruck ist, dass trotz oder vielleicht auch wegen der großen Unsicherheit, die man ja mit Händen greifen kann, die Menschen sich wieder für Politik interessieren. Das zeigt auch die gestiegene Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen.

Was können denn die Politiker dafür tun, dass wieder mehr Vertrauen in die Politik entsteht? Es ist ja nicht nur der Glaube an die Politik verloren gegangen, sondern das Verstehen ist nicht vorhanden. Die politischen Zusammenhänge heute sind so komplex, dass der Otto Normalverbraucher da gar nicht mehr durchsteigt.

Rainer Brüderle: Das eine steht vorm anderen. Dass man nicht mehr versteht, ist Grundlage dafür, dass man nicht mehr vertraut. Ich glaube, es gibt nur eine Strategie: Geradeaus, die Dinge offen und ehrlich ansprechen. Auch Politiker sind keine Wunderheiler, die die Weisheit vom lieben Gott direkt empfangen. Es sind Menschen, die irren können.

Viele Bürger sagen, Politiker würden sowieso nur Blödsinn erzählen, warum sollte ich also wählen gehen. Was würden Sie so einem wahlmüden Bürger antworten?

Rainer Brüderle: Demokratie ist eine Bringschuld. Glücklicherweise leben wir in einer Demokratie. Jede und jeder kann und darf wählen. Wenn Ihnen die Leute nicht gefallen, die regieren, dann gehen Sie zur Wahl und wählen andere. Das ist die Antwort. Das ist genauso, wenn bei mir ein Handwerker keine gute Arbeit leistet, ich mir einen anderen suche. Das ist in der Demokratie auch so: Wenn ich nicht zufrieden bin, engagiere ich mich selbst oder wähle jemand anderen. Die Lösung ist, nicht zu resignieren und zu sagen, die können nichts, sondern aktiv zu werden. Demokratie ist eine Bringschuld. Freiheitsrechte muss man aktiv verteidigen.

Heute ist es ja so, dass man sich die Informationen nicht nur aus der Zeitung holt, sondern über andere Kanäle – Facebook, Twitter etc. Da ist zu beobachten, dass die neuen Parteien ein bisschen schneller reagieren und viel aktiver sind als FDP, SPD, CDU usw.

Rainer Brüderle: Ohne uns zu loben, aber das war die Stärke der FDP bei den letzten Landtagswahlen. Wir haben nicht mehr alles Geld in Zeitungsannoncen oder Plakate gesteckt, sondern 50 Prozent des Etats in die digitalen Medien investiert. So konnten wir viel mehr Leute erreichen. Wenn ich die Menschen als Politiker erreichen will, muss ich dorthin gehen, wo sie sind. Und wenn ich mit der Zeitung oder auch bei den üblichen Ritualen von Parteiveranstaltungen niemand erreichen kann, dann muss ich dahin gehen, wo sie sind. Das ist die Bringschuld der Politik.

Das Internet birgt ja auch einige Gefahren. Dadurch, dass es so schnell ist und schnell viele erreicht, verbreiten sich auch sogenannte Fakenews sehr schnell. Wie würden Sie dieses Problem in Angriff nehmen?

Rainer Brüderle: Das Leben ist an sich gefährlich, auch im Straßenverkehr. Und klar birgt auch das Internet Gefahren. Natürlich gibt es Risiken. Und Fakenews gab es schon immer. Nur heute finden sie schneller und weiter Verbreitung. Da hilft nur Information und Aufklärung. Der Umgang mit Nachrichten ist vielleicht anstrengender als früher, aber dafür hat das Netz an vielen anderen Stellen auch Erleichterung gebracht. Die Demokratiebewegungen der letzten Jahre in vielen autokratischen Ländern wären ohne die sozialen Medien so nicht vorstellbar gewesen.

Sollte man in den Schulen dafür sensibilisieren, also wie man mit Fakenews umgeht?

Rainer Brüderle: Vielleicht braucht man so etwas wie einen Internetführerschein, also für den bewussten Umgang mit den sozialen Medien und dem Internet. Da gibt es sicher viel zu tun.

Zum Thema Mindestlohn: Der Mindestlohn an sich ist eine gute Sache, aber die Handhabung führt zu erheblichen Problemen, vor allem für kleine Zeitungsverlage. Zeitungsausträger werden nach Zeit bezahlt. Das führt aber dazu, dass Austräger, die langsamer arbeiten, nicht mehr bezahlt werden können.

Rainer Brüderle: Ich war immer gegen den Mindestlohn. Nicht, weil ich den Leuten das Geld nicht gönne, sondern weil ich glaube, dass nicht der Staat die Löhne regeln sollte, sondern Gewerkschaften und Arbeitgeber. Das nennt man Tarifautonomie. Nun ist die Sache politisch entschieden. Die Befürchtung, dass ein großer Teil von Arbeitsplätzen verloren geht, ist so nicht eingetreten. Das liegt aber auch daran, dass wir eine extrem günstige wirtschaftliche Entwicklung haben. Wenn wir eine Wirtschaft in der Rezession gehabt hätten, wäre das anders gewesen.

Sie sind schon sehr lange aktiv in der Politik. Können Sie uns eine Einschätzung geben, was sich in den letzten 20 bis 30 Jahren an der Arbeit im Bundestag, an der Arbeit des MdB verändert hat?

Rainer Brüderle: Die Arbeit hat sich grundlegend verändert. Das politische Geschäft ist schnelllebiger geworden und die Medienlandschaft vielfältiger. Heute erreicht man die Menschen über zahlreiche Kanäle. Das macht es für alle Seiten komplexer.

Die Arbeitsfelder wurden sicher vielfältiger?

Rainer Brüderle: Die Themen sind vielfältiger, die Anforderungen an Abgeordnete sind sehr viel spezieller. Da kann man als Bürger schon einmal den Überblick verlieren. Leider habe ich den Eindruck, dass das manchmal auch dem ein oder anderen Politiker so geht.