Steckbrief: Felix Neureuther

  • 1984 in Müchen geboren
  • Gewann mit drei Jahren sein erstes Rennen bei den Kinderskiclub-Meisterschaften des SC Partenkirchen
  • 2003 Weltcup-Debut im Riesenslalom in Kranjska Gora
  • 2005 Gold im Mannschaftswettbewerb der Skiweltmeisterschaft in Bormio
  • Seit 2019 Sportexperte bei ARD und BR
  • verheiratet, 2 Kinder

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Du sagst, es sei immens wichtig, Kinder für den Sport zu begeistern und sie – gerade in diesen Zeiten – wieder in Bewegung zu bringen. Aber ist es nicht so, dass der Sport in den letzten 20 Jahren ein wenig seine Unschuld verloren hat? Er ist anders geworden …

Felix Neureuther: Na ja, ich glaube, auch vor 20 Jahren ist bereits viel passiert, gerade wenn man sich den Bereich des Dopings anschaut. So unschuldig war der Sport damals auch nicht. Oder vielleicht sogar noch schuldiger, als er heute ist.

Vielleicht hat man damals nicht so viel mitbekommen?

Felix Neureuther: Genau. Man hat nicht so viel mitbekommen – nicht nur, was Doping angeht, sondern auch was das Thema Korruption betrifft. Ich gehe zeitlich auch noch ein bisschen weiter zurück, in die siebziger oder achtziger, in denen auch meine Mutter aktiv war, Franz Beckenbauer, Boris Becker und Steffi Graf – die Sportler hatten damals einen richtigen Heldenstatus. Das hat sich heute definitiv gewandelt. Damals sind die Menschen auf die Tennisplätze und an die Skihänge gestürmt und jeder wollte das gleiche Material haben, das auch die Sportikonen benutzen. Die Begeisterung war eine andere. Das liegt vielleicht auch daran, dass es damals weniger Möglichkeiten gegeben hat. Heute gibt es eine enorme Fülle an Optionen schon allein die Fernsehübertragungen betreffend. Es sind unglaublich viele verschiedenen Sportarten und Disziplinen dazu gekommen – was nicht zwingend eine positive Entwicklung ist. Immer mehr Sportarten generieren zu wollen, geht oft auf Kosten der Qualität. Früher gab es zum Beispiel beim Skifahren drei Disziplinen: Slalom, Riesenslalom und Abfahrt. Heute gibt es zusätzlich eine Kombination, Super G, Parallelrenne, Teamwettbewerben … Der Sport wird komplizierter dargestellt, als er eigentlich ist. Sport sollte ein seiner Einfachheit begeistern. Man muss sich mal die weltweit erfolgreichsten Sportarten anschauen. Der Fußball hat schon vor 50 Jahren 90 Minuten lang gedauert, gespielt wurde auf zwei Tore und die Mannschaft, die die meisten Tore schoss, hatte gewonnen. Klar, es wurden Regeln angepasst und Formate verändert, aber das Grundprinzip ist geblieben. Basketball, Eishockey, Baseball, Football, Rugby, Tennis oder Golf: Es ist immer das gleiche geblieben, ist nicht groß verändert worden. Für diese weltweit sehr populären Sportarten sind auch die Olympischen Spiele nicht zwingend das eigentliche Ziel. Sie sind zwar mit dabei, aber das ist nicht das relevanteste Ereignis. Bei den Sportarten aber, die sehr von den Olympischen Spielen profitieren, wird versucht, möglichst viele Disziplinen  zu integrieren, um noch mehr Fernsehzeiten zu erreichen. Es wird versucht, dieses Produkt auszusaugen. Dadurch entsteht eine Überangebot, und das ist nicht gut für den Sport.

Slalom und Riesenslalom waren Neureuthers Spezialdisziplinen. Foto: Nordica

Es bestehen also zu viele Alternativen, um die Bewegungsarmut nach vorn zu treiben? Die Anzahl der Couchsportler ist ja schon bedeutend höher als die des eigentlichen Sportlers.

Felix Neureuther: Da hast du absolut Recht. Ich bin ja ein sehr großer Fan des Sports und auch der Olympischen Spiele.  Das ist eine grandiose Bewegung, die unglaublich viel Emotionen bringt – und Sport lebt von den Emotionen. Diese Bewegung sollte und muss in ihrer ursprünglichen und wertebasierten Form erhalten werden. Daher finde ich es schade, dass man das Produkt Sport so maximiert: höher, schneller, weiter. Aber oft ist weniger  mehr. Werfen wir mal den Blick zum Biathlon, da gibt es unglaublich viele Disziplinen: es gibt jedes Jahr eine Weltmeisterschaft, es gibt Sprint, Verfolger, Einzel, Massenstart, Staffel, Mix-Staffel … Oder auch im Schwimmen. Man hat das Gefühl, dass im Schwimmsport mittlerweile 20 verschiedenen Goldmedaillen gewonnen werden können. Was ist denn noch eine einzelne Goldmedaille von Michael Phelps wert, wenn der bei den Olympischen Spielen neun Stück gewinnt?! Die Zuschauer und Sportinteressierten kennen sich nicht mehr aus in der Fülle der Disziplinen. Es muss dem Zuschauer aber leicht gemacht werden, damit er jede Disziplin zuordnen kann und die Medaille vom Vortag nicht am nächsten Tag schon wieder mit einem neuen Format überdeckt wird.  Nur dann kann die Sportart und auch der Athlet langfristig und nachhaltig wirken. 

Ich durfte einmal deine Mutter, Rosi Mittermaier, in einem Café in Garmisch interviewen, und ich hatte den Eindruck, dass sie ganz dankbar dafür ist, dass zu der Zeit, in der sie aktiv war, die Sportbranche noch nicht so gläsern war, wie heute.

Felix Neureuther: Heute ist es auch so, dass die Nahbarkeit der Sportler gar nicht mehr vorhanden ist. Früher gab es einen Zaun, wo die Rennläufer ins Ziel kamen, da konnte man einfach durchmarschieren und war sofort bei den Athleten. Sowas ist heute undenkbar! Auch beim Fußball kommt heute der Fan überhaupt nicht mehr in Kontakt mit den Spielern. Es findet – egal in welcher Sportart – eine extreme Abgrenzung statt, was ja teilweise auch verständlich ist. Aber die Nahbarkeit des Sports und der Sportler ist eben unheimlich wichtig für dessen Erfolg.

Ist das auch der Grundtenor dessen, was dich selbst umtreibt: Die Nahbarkeit ist weg und die Vorbilder fehlen?

Felix Neureuther:  Ja, sicher. Deshalb hat sich ja auch der Stellenwert des Sports drastisch verändert. Das hat aber auch noch andere Gründe, zum Beispiel die Digitalisierung. Die Kinder schauen sich heute den Sport nicht im Fernsehen sondern auf YouTube an. Oder Influencer unterspülen die Ansichten über soziale Medien. Auch Computerspiele stehen in direkter Konkurrenz – und das ist jetzt in Coronazeiten noch zehnmal schlimmer. Die Kinder müssen den ganzen Vormittag oder auch Nachmittag während des Homeschooling vor dem Computer sitzen und danach dürfen sie nicht raus zum Bewegen aufgrund des Kontaktverbotes.  Also sitzen sie zu Hause rum und entdecken statt körperlichem Spiel oder körperlicher Bewegung die negativen Bereiche des Internets. Wie willst du die dann noch vom Computer wegbekommen? Studien zeigen ganz klar, welches Suchtpotential dort besteht, das man nur noch ganz schwer beseitigen kann. Wir müssen es schaffen, dass sich die Kinder gerne wieder mehr bewegen! Und das wird eine riesige Herausforderung für uns …

Ich glaube, wir haben in den letzten 30 Jahren unheimlich viel verschlafen. Früher gab es zum Beispiel im Freizeitfußball im Ort in jeder Altersklasse eine oder zwei Mannschaften. Heute gibt es Spielgemeinschaften, in denen fünf Ortschaften zusammengeführt sind.

Felix Neureuther: Ja, das ist richtig. Es gab noch nie so viele Kinder im Alter zwischen sechs und acht Jahren, die anfangen, Fußball zu spielen. Es gab aber auch noch nie so wenige Kinder, die noch mit vierzehn oder fünfzehn Jahren weiterhin noch Fußball spielen. Es wird in den Verein eingetreten und gespielt, aber dann wird abgebrochen, weil einerseits die Schule unglaublich viel Zeit einnimmt, sodass für den Freizeitsport keine Lücke mehr bleibt, und andererseits findet sehr früh eine Professionalisierung statt, so im Alter zwischen zehn und 14 Jahren – und zwar egal in welchem Sport. Und das machen die meisten Kinder eben nicht mehr mit, was auch absolut verständlich ist. Wieso soll denn ein zwölfjähriges Kind schon so einen strukturierten Tagesablauf haben, wie ein Profisportler?! Zu den Gründen für das Bewegungsdefizit unserer Kinder gehört auch der schwindende Stellenwert des Ehrenamtes, insbesondere in Vereinen. Früher haben Eltern oder Großeltern Trainings organisiert oder die Jugendabteilung im Fußballverein trainiert. Das gibt’s heute nicht mehr. Wer nicht dafür bezahlt wird, der macht’s auch nicht.

Und bei Individualsportarten wie Skifahren wird das wahrscheinlich nicht viel einfacher sein …

Felix Neureuther: Natürlich nicht. Nehmen wir z.B. Karl Haider vom SC Lenggries, der sich ein Leben lang ehrenamtlich für den Ski-Nachwuchs engagiert hat und dem eine Hilde Gerg oder eine Martina Ertl ihre großartigen Karrieren verdanken. Der Karl müsste einen Verdienstorden bekommen. Und wurde nicht dafür bezahlt, sondern hat das aus Leidenschaft gemacht. So etwas gibt es einfach heutzutage fast nicht mehr …

Hattest du – außer deinen Eltern – Vorbilder, an denen du dich orientieren konntest?

Felix Neureuther: Also, meine Eltern waren, was das Skifahren betrifft, eigentlich nicht meine Vorbilder. Das war einfach eine andere Generation, und wie gut sie tatsächlich Ski gefahren sind, hatte ich als Kind gar nicht mit bekommen. Es gab im Haus keine Pokale oder ähnliches, was darauf hätte hinweisen können. Mein großes Vorbild damals in puncto Skifahren war Alberto Tomba. Ich bin jeden Tag zum Skilaufen gegangen und wollte so fahren, wie Alberto Tomba. Ich sehe Vorbilder für Kinder als extrem wichtig, weil denen eben nachgeeifert wird. Der heutigen Generation scheint diese Vorbildwirkung, die sie auf die Kinder haben, gar nicht mehr so bewusst zu sein. Es ist wichtiger, irgendetwas in den sozialen Medien zu posten, als einem Kind ein Autogramm auf ein T-Shirt zu geben oder mit ihm ein Foto zu machen. Leider habe ich das selbst schon oft beobachtet, dass manche Athleten Kinder einfach ignorieren. Das ist beschämend, denn diese Minute Zeit, die es dauert, ein Foto zu machen, hat jeder, und kann damit Kindern noch eine riesengroße Freude machen. Aber heute wird das als stressig und nervig empfunden.

Dinge, wie zum Beispiel Respekt, Wille oder Erfolgsbesessenheit, bekommt man nicht mit in die Wiege gelegt, sondern müssen erarbeitet werden. 

Felix Neureuther: Unbedingt. Respekt ist vor allem ein eigenes und wichtiges Thema. Und das gilt nicht nur für den Sport sondern für alle Lebenslagen. Heute schaut jeder nur noch auf sich, beruflich oder privat. Es herrscht viel zu wenig Miteinander, und das ist gar nicht gut.

Was ist denn konkret zu tun, um Jugendliche und Kinder sich wieder mehr bewegen zu lassen? Ehrenamt fördern? Vereine unterstützen?

Felix Neureuther: Wir sind ein Vereinsland, es gibt 88.000 Sportvereine in Deutschland, und die machen einen super Job. Aber jetzt kommt die Politik ins Spiel. Es ist einfach, an die Eltern zu appellieren, dass die sich mehr mit ihren Kindern beschäftigen. Aber das sollte ja etwas Selbstverständliches sein. Aber wenn du dir heute beispielsweise ein Leben in einer Stadt leisten willst, dann müssen beide Elternteile arbeiten, um das finanzieren zu können. Daher sind auch Politik und Kultusministerien letzten Endes verantwortlich dafür, dass Kinder und Jugendlichw die für eine vernünftige Lebengrundlage notwenige Portion Bewegung bekommen Da ist nicht nur die Bildung bei den Lernfächern gefragt, sondern gleichberechtigt die Ausbildung der Koordinationsfähigkeiten und er körperlichen Bewegung. Wo bleibt das Bekenntnis zu „mens sana in copore sano“? Und rein ökonomisch gesehen: Wer soll das Gesundheitssystem dieser belasteten Generationen bezahlen? . Und das ist vielen noch nicht bewusst. Es werden Millionen in die Digitalisierung der Schulen gesteckt – aber was wird in die Gesundheit der Kinder investiert? Fast gar nichts. Wenn Unterricht gestrichen werden muss, ist es meistens der Sportunterricht. Die Kinder sind immer länger in den Schulen für noch mehr Unterricht — aber die Bewegung und damit die Gesundheit bleibt auf der Strecke. Es ist verheerend. Die Kinder lernen, sieben oder acht Stunden am Stück ruhig sitzen zu bleiben. Das ist wider die Natur der Kinder. Die wollen sich ja bewegen, denn das ist ein Naturantrieb und dürfen es nicht . Hier muss dringend etwas geändert werden, aber das ist eine politische Entscheidung, und ich befürchte, da wird sich nicht viel ändern.

Neben der Felix-Neureuther-Stiftung hat der Profisportler außerdem das Projekt „Beweg dich schlau! mit Felix Neureuther“ ins Leben gerufen, das Kinder zu mehr Sport motivieren, ihnen Freunde an der Bewegung vermitteln und ihre Lebensgewohnheiten nachhaltig positiv beeinflussen soll. Foto: Matthias Fend

Du bist vom Status des Spitzensportlers zu dem des Experten gewechselt. Gingen dir damals die Experten nicht auch ein bisschen auf die Nerven? So wie manche ehemalige Fußballgrößen, die jetzt, da sie Expertisen ausstellen, so tun, als hätten sie damals nie einen Fehlpass gespielt?

Felix Neureuther: (lacht) Kommt drauf an. Ich habe mir als Sportler nach dem Rennen bei der Analyse immer die Expertenmeinungen angehört, weil die Experten aus dem Sport kommen und meist auch sehr viel Erfahrung haben. Sie haben selbst schon viel erlebt und wissen, wie es läuft. Wenn also entsprechende Experten eine fundierte Kritik oder Korrektur äußern , dann habe ich das sicher reflektiert und  probiert, das umzusetzen. Vielleicht auch, weil es manchmal eine andere Meinung als die meiner Trainer war. Da sollte man immer offen sein und wer dafür nicht bereit ist, ist selber schuld.