Prof. Dr. Hendrik Streeck. (Foto: honorarfrei)

Steckbrief: Hendrik Streeck

  • Geboren am 7. August 1977 in Göttingen.
  • Studierte zunächst Musikwissenschaft und BWL bis zur Zwischenprüfung, wechselte dann zur Humanmedizin.
  • Verbrachte mehrere Jahre an der Harvard Medical School, u. a. als „Assistent Professor“.
  • Seit 2019: Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen AIDS-Stiftung
  • Seit Oktober 2019: Direktor des Institutes für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn
  • Zu Beginn der COVID-19-Pandemie leitete Streeck die COVID-19 Case-Cluster-Study am Universitätsklinikum Bonn über die Gemeinde Gangelt („Heinsberg-Studie“).

Was ist Ihre Einschätzung: Wird die Impfpflicht für alle kommen?

Hendrik Streeck: Es gibt ein Für und Wider: Einerseits sind wir an einem Punkt, wo wir wissen: Wenn sich jeder Mensch impfen lassen würde, wäre die Situation auf den Intensivstationen sehr viel entspannter. Andererseits reden wir über einen Impfstoff, dessen Schutzdauer bisher nicht absehbar ist. Es ist gut möglich, dass man sechs Monate nach der Booster-Impfung wieder eine Auffrischung benötigt, und wir wissen wahrscheinlich auch dann noch nicht, wie lange diese halten wird. Gleichzeitig verändert sich das Virus und auch der Impfstoff muss angepasst werden, so dass man in Schwierigkeiten kommt, den genauen Impfschutz zu definieren. Hinzu kommt die Frage nach der Kontrolle und ob man die Menschen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, über eine Impfpflicht besser erreicht. Ich glaube deshalb, dass wir jenseits einer Impfpflicht noch viel stärker das Thema Aufklärung voranbringen müssen.

Ich habe mich auch gefragt, wie eine Impfpflicht praktisch aussehen kann, wenn tatsächlich alle sechs Monate aufgefrischt werden muss.

Hendrik Streeck: Es gibt weitere Aspekte, die man bei wiederholender Impfung bedenken muss. Ich spreche jetzt hier nicht vom dritten Booster, sondern wenn dem Immunsystem immer wieder das Oberflächenprotein des Virus auf immer gleiche Weise gezeigt wird. Man darf nicht vergessen: Der Impfstoff besteht noch aus dem Oberflächenprotein des Originalvirus und nicht basierend auf der Alpha- oder Delta-Variante. Wenn wir unserem Immunsystem alle sechs Monate vermitteln, dass das Virus genau so aussieht, dann „verlernt“ es womöglich die Fähigkeit, andere Varianten zu erkennen. Das kann nachteilig sein bei einem sich schnell verändernden Virus. Wir nennen das die „Antigen Erbsünde des Immunsystems“ – ein zugegeben sehr theatralischer Name. Das tritt allerdings noch nicht nach der dritten oder vierten Impfung ein. Wenn wir aber dauerhaft, vielleicht über Jahre, dem Immunsystem sagen, wie das Virus aussieht, werden vielleicht – hypothetisch, wir wissen es noch nicht – andere Informationen gelöscht. 

Sie haben es vorhin bereits kurz erwähnt: Die Aufklärung zu diesem Thema müsste besser sein. Ich sehe da große Defizite. Das fängt bei der grafischen Umsetzung an und hört bei der Aufklärungsarbeit auf. Wie nehmen Sie die aktuelle Impfkampagne wahr?

Hendrik Streeck: Vor allem über die Sommermonate hat man aus meiner Sicht zu viel Wahl- und zu wenig Impfwerbung gesehen. Ich sehe auch an den Fragen, die ich aus der Bevölkerung bekomme, dass es noch viele Verständnisprobleme gibt: Was ist denn der Unterschied zwischen klassischen Impfstoffen, Vektor-Impfstoffen und mRNA-Impfstoffen? Wie wirken sie? Viele sind überrascht, wenn wir ihnen erklären, dass der Impfstoff nach kurzer Zeit komplett aus dem Körper verschwunden ist. Solche Dinge zu erklären, z. B. mit kurzen Aufklärungsvideos – das wurde bisher leider versäumt!

Das ist ja vermutlich mit ein Grund, warum wir jetzt überhaupt über die Impfpflicht sprechen müssen.

Hendrik Streeck: Das spielt eine Rolle. Wir haben in Deutschland zudem traditionell eine etwas skeptischere Haltung gegenüber Impfungen als in anderen Ländern. Aber dass wir es versäumt haben, optimal aufzuklären, ist leider so. Ich bin ein Impf-Fan und es ist unbestritten, dass das der wichtigste Faktor ist, um durch diese Pandemie zu kommen. Trotzdem bleibe ich skeptisch, dass wir die Menschen dazu verpflichten sollten, ebenso wäre ich unglücklich über einen Strafenkatalog. Es gibt aus meiner Sicht allerdings eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen. Aber so sehr ich es verstehen kann, dass beispielsweise die Mutter infolge der Impfung eine Hirnvenenthrombose erlitten hat und die kerngesunde Tochter nun Sorge hat, eine ähnliche Reaktion zu zeigen, so sehr glaube ich auch, dass man mit den richtigen Abwägungen nicht vom Prinzip einer Impfung abweichen sollte. 

Innerhalb der Impfgegner gibt es aber auch viele, die nicht aus Verunsicherung oder Angst heraus handeln. 

Hendrik Streeck: Diese praktisch dogmatische, strikte Impfgegnerschaft ist etwas, was ich nicht nachvollziehen kann und was ich für sehr gefährlich halte. Aber das ist eine kleine Gruppe. Ich sehe das jeden Tag in meinen E-Mails. Da sind aber auch Menschen dabei, die Angst haben, die an die Hand genommen werden müssen und Erklärungen und vor allem Aufklärung brauchen. Vieles kann man sicher in persönlichen Gesprächen bewirken. Und das ist eben auch ein Problem: Wir haben für solche Fälle keine Beratungsstelle und die Hausärzte sind damit derzeit völlig überlastet. Wer sich aktuell mit Ängsten plagt, hat keine Möglichkeit, zum Hörer zu greifen und mit einem Arzt zu sprechen, um eine neutrale vielleicht zweite Meinung einzuholen. 

Sie waren einer der Ersten, der gesagt hat, dass wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Das wurde damals allerdings heftig kritisiert.

Hendrik Streeck: Mir ging es dabei vor allem darum, zu verdeutlichen, dass wir Langzeitstrategien brauchen. Was ich problematisch zu dieser Zeit fand, war die Kommunikation: „Noch ein Lockdown, dann ist alles vorbei.“, „Noch einmal Zähne zusammenbeißen, dann haben wir es geschafft.“ „Jetzt kommt die Impfung, dann haben wir es hinter uns.“ Dabei war es von Anfang an klar, dass wir es über Jahre mit diesem Virus zu tun haben werden. Und bei allen Fehlern, die in anderen Ländern passiert sind, gibt es doch eine Sache, die häufig richtig gemacht wurde: Die Bevölkerung wurde mitgenommen. Es wurde verdeutlich, dass es Veränderungen geben würde, die alle akzeptieren müssen, aber dass das Leben dennoch in einer gewissen Normalität weiter laufen kann. Dafür pragmatische Lösungen zu finden, Konzepte erarbeiten, wie man bestimmte Events durchführen kann, ohne dass wir ein erhöhtes Infektionsrisiko haben – darauf hat sich Deutschland zu lange viel zu wenig konzentriert. Mit dem Virus zu leben, bedeutet ja nicht, es durchlaufen zu lassen, sondern, dass man sich darauf einstellt, indem man Dinge ausprobiert und Konzepte entwickelt. Stattdessen arbeiten wir immer noch mit Hygienekonzepten, die nicht wirklich wissenschaftlich untersucht wurden. 

Wie wird es denn weitergehen?

Hendrik Streeck: Eine Wahrheit, der wir uns stellen müssen, ist, dass wir alle in den nächsten Jahren irgendwann Kontakt mit dem Virus haben werden. Wir werden wahrscheinlich alle einmal eine Infektion durchmachen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass unsere Strategie nicht sein kann, dass wir uns dauerhaft einsperren, sondern wir müssen die Erkrankung verhindern – das ist etwas ganz anderes als die Infektion zu verhindern. Letzteres schaffen wir am besten mit der Impfung. Wir müssen aber als Gesellschaft auch akzeptieren, dass es Menschen gibt, die lieber das Risiko der Erkrankung eingehen wollen. 

Im Sommer war innerhalb der Wissenschaft schon klar, dass wir im Herbst und Winter Probleme bekommen werden. Aber diese Botschaft ist in der Politik nicht angekommen. Wie schaffen es Wissenschaftler, mehr Gehör zu bekommen?

Hendrik Streeck: Ein Fehler der letzten Regierung war, dass es kein echtes Expertengremium gab, einen Pandemierat, in dem verschiedene Stimmen zu Wort kommen. Das ist unter der neuen Regierung nun anders. Außerdem gibt es jetzt auch einen Krisenstab. Ich setze viel Hoffnung darauf, dass man versuchen wird, die Stimmen zu vereinen und so deutlich macht, dass die einzelnen Positionen der Experten oft gar nicht so weit auseinander liegen, wie das bisher manchmal den Anschein hatte. 

Ist es manchmal nicht auch frustrierend, wenn Politiker einfach nicht auf die Wissenschaft hören wollen?

Hendrik Streeck: Nein, eigentlich nicht. Das ist eine wichtige Trennlinie. Politiker müssen die Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen, dabei gilt es vieles abzuwägen und ich will nicht, dass die Politik alleine auf die Wissenschaft hört. Es gibt einen guten Grund, dass wir nur Berater sind. Ob die Ratschläge angenommen werden oder nicht, können die Politiker selbst entscheiden. 

Leider zeigt die Pandemie, dass unser Gesundheitssystem, wie es bisher aufgestellt war, nicht mehr zeitgemäß ist, richtig?

Hendrik Streeck: Die Entwicklung zeigt vor allem, dass wir viele Fehler der vergangenen Jahre nicht angegangen sind. Es gibt große strukturelle Schwächen. Wir müssen uns überlegen, ob etwas, das eigentlich das Fundament unseres Wohlstands ist, wirklich eine solch starke Marktorientierung haben sollte. Wir leben in einer immer älter werdenden Bevölkerung. Es gibt eine wachsende Anzahl von Menschen, die gepflegt werden müssen. Wir brauchen jetzt endlich Programme, die den Mangel an Pflegekräften langfristig beenden, da passiert aus meiner Sicht wenig bis zu wenig. Und wenn ich Jens Spahn zitieren darf: In puncto Pflegenotstand heißt es seit Monaten: „Es ist zehn nach zwölf!“

Wie zuverlässig sind eigentlich die Zahlen, die das RKI täglich zu den Infektionen veröffentlicht?

Hendrik Streeck: Das Problem ist: Wir haben es nicht geschafft, in Deutschland wirklich gute Maßzahlen für die Pandemie zu etablieren. Wir hangeln uns an den Inzidenzen entlang – Zahlen, bei denen jedem Epidemiologen die Haare zu Berge stehen! Denn das sind natürlich keine echten Inzidenzen. Wir betrachten nur die gemeldeten Fallzahlen. Diese sind von der Anzahl der Tests abhängig. Das bedeutet, dass wir logischerweise zum Schulbeginn immer erhöhte Werte bei Schülern haben. Bei Geimpften sind die Zahlen extrem niedrig, weil die eine zeitlang gar nicht getestet wurden. Katar, Israel, England – die haben das ganz anders aufgesetzt: Dort werden repräsentative Stichproben gezogen. In Katar beispielsweise werden jede Woche 5 Prozent der Bevölkerung mit einem PCR-Test getestet – egal, ob geimpft, genesen oder nichts davon. So kann man relativ genau sagen, wie sich das Virus in welcher Bevölkerungsgruppe ausbreitet. England macht das ein Mal im Monat mit 150.000 Teilnehmern. Dadurch hat man gute Daten und Maßzahlen – auch um Rückschlüsse auf die Wirksamkeit von Maßnahmen zu ziehen. Solche Ideen gab es auch für Deutschland. Das Protokoll dazu liegt meines Wissens in den Behörden in der Schublade. 

Könnte man das jetzt immer noch durchführen?

Hendrik Streeck: Es ist nie zu spät! Nach der Auswertung kann man z. B. mit Hilfe eines Ampelsystems ein Score entwickeln. Das hatte ich im Sommer 2020 schon vorgeschlagen. Denn es geht ja nicht nur um Infektionszahlen, es geht um die Intensivstationen, um die Hospitalitierungsinzidenz usw. Die aktuelle Hospitalisierungsrate ist ja auch gut gemeint, aber suboptimal gemacht. 

Wie nehmen Sie denn eigentlich die sehr hitzigen Diskussionen innerhalb der Gesellschaft momentan wahr?

Hendrik Streeck: Was mich am meisten stört, ist die Spaltung an Stellen, an denen überhaupt keine Spaltung notwendig ist. Oft angetrieben durch die Polemik in Medien, die Linien ziehen, wo eigentlich keine sind. Man könnte das alles auch differenzierter darstellen und über die verschiedenen Sichtweisen berichten. Die Problematik dabei ist, dass differenzierte Darstellungen häufig auch kompliziert sein können – und Medien stellen das dann verkürzt dar. So kann nicht mehr jeder nachvollziehen, was eigentlich gemeint war. Dadurch werden oft auch falsche, weil verkürzte Aussagen zugeordnet. 

Eine letzte Frage möchte ich zum Verständnis noch stellen. Man liest oft: „Geimpfte sind genauso ansteckend wie Ungeimpfte.“ Was bedeutet dieser Satz denn in der Praxis? Kann man das Virus nicht nur dann weitertragen, wenn man infiziert ist? Und ist die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein als Geimpfter nicht kleiner als als Ungeimpfter?

Hendrik Streeck: Der Satz an sich stimmt so nicht. Geimpfte sind nicht genau so ansteckend wie Ungeimpfte! Dazu gibt es verschiedene Daten. Man nimmt an, dass es eine Reduktion von Infektionen bei Geimpften zwischen 20 und 70 Prozent gibt. Es ist schwer, eine genaue Zahl festzumachen, weil neben der Infektion selbst auch das Verhalten eine Rolle spielt. Geimpfte verhalten sich vielleicht sogar sorgloser als Ungeimpfte. Wenn Geimpfte sich aber infizieren, haben sie im Rachen auch erstmal die gleiche Virenlast wie Ungeimpfte, aber bei Geimpften nimmt das schneller wieder ab – die Zeitspanne der Infektiosität ist bei Ungeimpften also länger.