An guten Tagen kann sie auch solche Werke erschaffen – allerdings nie im Kindergarten. (Foto: hea)

Paula schwärmt in der Mittagspause gerne überschwänglich von ihren Kindern. Wie alle Mütter oder Väter berichtet sie äußerst gerne von jedem Pups, den sie gelassen haben, als ob sie dafür ein Verdienstkreuz verdient hätten. Manchmal ist der Pups tatsächlich berichtenswert, viele Male verdrehen die Kollegen aber auch heimlich die Augen.
Laut diesen Berichten, scheint Paulas Kleinste, Emma, eine sehr begabte Künstlerin zu sein. Unzählige Male musste Günther schon mit gespielter Begeisterung auf das Smartphone seiner Kollegin starren und Emmas Kleinkind-Kritzelei begutachten.
Bei dem Gemälde, das er heute zu sehen bekommt, muss er aber dann doch mal ehrlich sein: „Paula, bei aller Liebe, aber das ist such für eine Dreijährige echt nicht besonders schön gemalt!“#

„Du hast ja vollkommen Recht!“, entgegnet Paula, „das Gleiche dachte ich gestern auch, als mir seine Erzieherin das Bild gezeigt hat.“

„Regenbogen“. Das Meisterwerk der kleinen Emma. (Foto: hea)

Die Erzieherin habe Paula beim Abholen von Emma abgefangen und mehr oder weniger stolz berichtet, dass sie Emma endlich mal dazu gebracht habe, einen Stift in die Hand zu nehmen. Das scheint sie im Kindergarten nämlich wirklich nie zu machen. (Im Sommer stand das Kindergartenfest unter dem Motto „Kunst“, alle Kinder haben sich mit verschiedenen Malern und Epochen beschäftigt und hunderte Gemälde nach diesen Vorbildern produziert. Das einzige Kind, das kein einziges Bild zur Ausstellung beigesteuert hat, war Emma.) Gestern hat sie nun also doch endlich mal ein Bild produziert.
„… und was soll ich sagen: Kein Wunder, dass seine Erzieher nichts von ihrer Begabung wissen. Sie verstellt sich gut“, führt Paula aus.

„Was hat sie denn da überhaupt gemalt?“, möchte Elli wissen.

„Emma meinte gestern, das sei ein Regenbogen, das sei doch eindeutig!“, entgegnet Paula. „Aber wisst ihr was! Schaut nochmal genau hin! Ich glaube nämlich inzwischen, Emma ist uns einfach künstlerisch-intellektuell so weit voraus, dass wir halt ein bisschen länger brauchen, um ihre Bilder zu verstehen. Ich habe die Zeichnung inzwischen auf mich wirken lassen und weiß nun mit Sicherheit: Es ist ein Meisterwerk! Das hier ist nicht mehr und nicht weniger als eine zum Bild gewordene Gesellschaftskritik! Nennt sich Regenbogen, möchte bunt und vielfältig sein, tolerant und erfrischend – und ist am Ende doch nur einheitlich düster und trist.“