Ulf Kirsten: „Ich denke, dass man alles aufsaugt und alles mitnehmen will“

Der zweimalige Bundesliga-Torschützenkönig Ulf Kirsten über Bundesliga, Champions League und die Fußball-WM

Die erste Frage – wie geht es dir?

Ulf Kirsten: Momentan geht es mir gut, danke. Ich bin viel unterwegs, beantworte viele Interviews und beschäftige mich natürlich weiter viel mit Fußball.

Treibst du noch Sport?

Ulf Kirsten: Ja, ich gehe joggen und spiele ab und an Fußball. Aber durch ein paar schwere Verletzungen fällt mir Joggen leichter.

Aber du bist nicht der Teil einer Vereins-Traditionsmannschaft?

Ulf Kirsten: Ich spiele vor allem gern in Mannschaften, zu denen ich einen nahen Bezug habe. Also in erster Linie Dresden und Leverkusen. Aber es gibt ja auch die Fußballlegenden, wo ich aktiv bin und die wir mit Lothar Matthäus und Jens Nowotny ins Leben gerufen haben. Mit dieser Mannschaft gibt es Länderspiele gegen andere Nationen und da dürfen aber auch nur Nationalspieler mitspielen.

Muss man dafür auch trainieren?

Ulf Kirsten: Ja, jeder muss sich selbst fit halten. Es gibt aber kein spezielles Trainingsprogramm wegen solch eines Länderspiels. Aber es sind schon ein paar gute Jungs dabei. Wir haben gegen Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, Tschechien und Holland gespielt. Es macht immer richtig Spaß.

Du warst nach der aktiven Laufbahn Trainer der Regionalligamannschaft von Bayer Leverkusen. Warum wurde diese Karriere beendet?

Ulf Kirsten: Ich habe das sieben Jahre gemacht, es war eine schöne und lehrreiche Zeit, aber ich hätte auch gerne wieder im Profi-Bereich gearbeitet. Als Cheftrainier habe ich mich aber nicht gesehen.

Markus Eisel unterhielt sich mit Ulf Kirsten. (Foto: privat)

Hast du die Trainierkarriere komplett auf Eis gelegt?

Ulf Kirsten: Ganz nicht. Würde ein Verein kommen und hätte gerne die Stürmer trainiert oder ein Verein, der Hilfe benötigt, die Jugend an die erste Mannschaft heranzuführen, dann würde ich mir das auch anhören. Ich hatte auch zwei Anfragen im letzten Jahr, diese waren allerdings im Ausland und das wollte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
Aber das Herz schlägt immer noch für Bayern, nehme ich an?
Ulf Kirsten: Absolut. Ich verfolge alles und gehe auch noch ins Stadion, wenn es zeitlich passt.

Du bist, untypisch für einen Profi, immer sehr vereinstreu gewesen.

Ulf Kirsten: Das hat sich einfach angeboten. Calli hat ja auch immer die Hand draufgehalten. Er wollte nicht, dass ich verkauft werde. Ich hatte Anfragen und auch Angebote, aber für Calli war ich unverkäuflich.

Hast du das bereut?

Ulf Kirsten: Nein, ich kann nichts bereuen, weil ich gar nicht weiß, was mich erwartet hätte. Ich habe das aber nie bereut und da mein Traumland England gewesen wäre und das nicht das Maß aller Dinge war, hatte sich das für mich erledigt.

Innerhalb von Deutschland gab es keine interessanten Vereine?

Ulf Kirsten: Bayern hätte mich natürlich schon mal gereizt, da hatte ich auch ein oder zwei Anfragen, aber die Frage nach der Höhe der Ablösesumme stand immer im Raum. Das Bosman-Urteil gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht und als es in Kraft getreten ist, war ich schon 31 Jahre alt und das war zu spät. So hatte ich meine schönste Zeit in Leverkusen. Ich wurde noch zweimal Torschützenkönig und hatte tolle Erfolge mit Christoph Daum.

Heute wärst du wohl einer der Stürmer, die 60 Millionen Euro kosten. Hattest du damals einen Berater?

Ulf Kirsten: Ich hatte die ersten zwei Jahre einen Berater, das war allerdings eher die rechte Hand von Rainer Calmund. Er hat mich ein bisschen betreut und eben auch beraten. Danach nicht mehr. Für Verträge und solche Angelegenheiten hatte ich einen Anwalt.

Hat man nach der aktiven Zeit noch Kontakt zu ehemaligen Mitspielern aus dem Verein oder der Nationalmannschaft?

Ulf Kirsten: Ja, klar. Zu Jens Nowotny habe ich noch viel Kontakt. Er wohnt auch bei mir in der Gegend. Carsten Ramelow, Bernd Schneider, Andreas Thom und viele mehr. Ich habe noch zu Leuten von der Sportschule aus Dresden Kontakt. Das behält man schon bei. Die Mannschaft an sich war super! 1996-2002 war das eine super Truppe und wir haben uns auch sehr gut verstanden. Den Kontakt hat man auch gehalten. Natürlich nicht mit jedem, aber mit dem Großteil.

Kann man die Präsenz des Fußballs heutzutage noch mit der Präsenz von vor 20 Jahren vergleichen?

Ulf Kirsten: Das hat sich alles ins Endlose entwickelt. Das sagt aber jeder. Zu jedem Jahrzehnt gab es einen Wechsel. Durch das enorme mediale Interesse bricht auch vieles auf die Spieler ein. Das ist nicht so einfach, dafür muss man auch geboren sein. Für mich war es zu Beginn auch sehr schwierig. Wenn ich jetzt meinen Sohn sehe, wie er mit den Medien umgeht, ist das das komplette Gegenteil zu mir. Ich bin eher ruhig und zurückhaltend und er ist relativ offen und traut sich auch vieles. Ich war also auch eher verschlossen, was die Presse anging.

Das ist heute wahrscheinlich eine ganz andere Welt.

Ulf Kirsten: Natürlich. Vieles hat sich heute verändert. Der Fokus der Medien und das Geschäft allgemein ist heute wesentlich intensiver. Vor allem damals im Osten hat auch einfach die Erfahrung im Management gefehlt und wir Spieler waren auch komplett ahnungslos.

Als sich der Mauerfall angedeutet hat, war es der Traum der Spieler in die Bundesliga zu wechseln?

Ulf Kirsten: Das war für jeden ein Traum. Wir haben das immer verfolgt. Die Bundesliga war allgegenwärtig, auch im Osten und sicher strebten wir danach, dort mal irgendwann teilnehmen zu können.

Konnte man einen Trainingsunterschied zwischen Bundesliga und DDR erkennen?

Ulf Kirsten: Klar! Wir trainierten in der damaligen DDR viel mehr. Wir mussten jeden Tag zweimal trainieren und hatten keinen Tag frei. Wir hatten zweimal in der Woche Hauptbelastung, was in der Bundesliga nur einmal ist. Wir hatten montags und mittwochs Hauptbelastung und mussten samstags spielen. Das war schon ganz anders. Heute wird zwar weniger trainiert als früher, aber individueller und spezieller.

Die Spieler haben doch auch ein anderes Trainingsprogramm oder?

Ulf Kirsten: Natürlich, das liegt auch daran, dass sich die Medizin und die wissenschaftlichen Werte weiterentwickeln. Es wird m ehr auf die Blutwerte, die CK-Werte, geachtet, das Training wird daran angepasst. Früher wusste man nicht einmal was CK-Werte sind. (lacht) Das Spiel ist auch athletischer und schneller geworden.

Wenn man Länderspiele sieht, oder sich die deutsche Nationalmannschaft anschaut, die Qualität ist doch enorm.

Ulf Kirsten: Ich denke schon, dass die Qualität eine sehr hohe ist. Ich glaube auch, dass die Auswahl der Spieler viel besser durchdacht ist. Früher gab es eine Doppelbesetzung, heute hat man 30 bis 40 Spieler, die auf einem Niveau sind. Es macht auch richtig Spaß, die Nationalmannschaft anzuschauen. Ich freue mich sehr auf die WM.

Die Nationalmannschaft ist sehr erfolgreich. Seit 2006 stehen sie immer im Halbfinale. Trotzdem wird an Jogi Löw immer gezweifelt.

Ulf Kirsten: Der Grundstein wird immer im Verein gelegt. Dort werden die Spieler trainiert. Verfeinert wird es dann in der Nationalmannschaft. Die Kommunikation zwischen den Vereinen und der Nationalmannschaft ist sehr wichtig und das funktioniert heute definitiv besser als früher. Ich bekomme nicht wirklich viel mit, was die Presse über ihn schreibt aber unter den Spielern und auch in der Bevölkerung genießt er schon eine große Anerkennung.

Wie siehst du die Chancen bei der Weltmeisterschaft in diesem Jahr?

Ulf Kirsten: Wir zählen natürlich zu den großen Favoriten- wie in jedem Jahr. (lacht) Aber ich denke, dass dieses Jahr noch die Franzosen dazukommen, die habe ich in Köln gesehen und fand sie sehr gut. Die Spanier spielen top, Brasilien wird sich das auch nicht mehr so bieten lassen wie bei der letzten WM und es gibt immer noch einen Außenseiter auf den man vorher nicht getippt hätte. Ich glaube auch, dass die Argentinier wieder besser spielen und damit hat man auch schon vier Vereine, die starke Gegner sind.

In so einem Trainingslager passiert doch auch noch einmal was mit den Spielern.

Ulf Kirsten: Ja absolut. Das geht alles über eine Teamleistung. Da sind wir meistens auch ganz vorne dabei. Die Mannschaft versteht sich gut und das ist auch sehr wichtig.

Auf dem Spielfeld kommt es mit anderen Spielern auch mal zu einer Auseinandersetzung und dann ist man mit so einem Spieler sechs Wochen im Trainingslager der Nationalmannschaft. Werden solche Situationen aufgearbeitet oder ist es dann abgeschlossen?

Ulf Kirsten: Man respektiert sich einfach. Gerade auch mit Jürgen Kohlerabe habe ich mich öfter gefetzt. Trotzdem hatten wir immer ein gutes Verhältnis – haben wir nach wie vor noch. Das gehört einfach dazu. Wir haben uns immer respektiert und akzeptiert. Es ging nie so weit, dass man noch irgendwelche Gespräche hätten führen müssen.

Was wiegt für einen Spieler am meisten? Die Bundesliga, die Champions League oder die Nationalmannschaft? Oder macht man hier als Spieler keine Unterschiede?

Ulf Kirsten: Ich denke, dass man alles aufsaugt und alles mitnehmen will, was kommt und was geht. Natürlich fokussiert man sich anders, wenn man gegen Real Madrid spielt als wenn man gegen einen Bundesligisten spielt. Das ist ganz normal. Aber trotzdem geht ein Spieler immer mit der gleichen Motivation ins Spiel. Zumindest bei mir war das immer so. Die Vorbereitung war immer die Gleiche. Egal ob Bundesliga oder Champions League.

Ist man auch nervös? Per Mertesacker hat in einem Interview von einem immensen Druck gesprochen.

Ulf Kirsten: Druck ist immer da, aber wenn ich innerlich angespannt bin, bring ich auch Höchstleistung. Wenn ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit auf den Platz gehe, kann ich auch nicht meine beste Leistung abrufen. Manchen Spielern ist es auch schlecht vor dem Spiel oder sie müssen sich übergeben, das hatte ich nicht. Aber aufgeregt und angespannt war ich schon.

Nach der aktiven Zeit – besteht da die Gefahr, dass man in ein Loch fällt?

Ulf Kirsten: Mir ist das nicht schwergefallen. Ich hatte aber auch relativ viel Glück und konnte als Co-Trainer für die erste Mannschaft arbeiten. Danach habe ich die zweite Mannschaft als Trainer übernommen. Jeder bereitet sich darauf vor, dass die aktive Zeit irgendwann zu Ende ist. Also kann ich theoretisch auch nicht in ein Loch fallen. Es besteht die Chance, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen oder sich nach Alternativen umzuschauen.

Du hältst dich aus der Öffentlichkeit eher zurück. Man sieht dich auch nicht als Experte.

Ulf Kirsten: Ich bin schon öfter mal medial unterwegs gewesen und war auch schon als Experte bei verschiedenen Sendern aktiv. Ich bin aber nicht derjenige, der sich permanent zwei Stunden in ein Studio setzt, um über andere Mannschaften zu philosophieren. Ich kann mich kurz darüber informieren, aber ich muss nicht zu allem meine Meinung abgeben. Ich glaube zum Beispiel, dass es dem HSV relativ egal ist, welche Bewertung ich zu den Spielen abgebe. Das ist einfach so. Klar, wenn es zu Dynamo Dresden oder Leverkusen Diskussionen gibt, dann setze ich mich auch mit ins Studio, aber fokussieren auf andere Vereine – das mache ich eigentlich nicht.

Hast du selbst lieber gespielt als trainiert?

Ulf Kirsten: Klar, das ist das Beste was es gibt. Training gehört dazu, aber ein Fußballer lebt für das Spiel.

Meine letzte Frage. Wie stehst du zu dem, was in Leipzig passiert?

Ulf Kirsten: Die Leistung, die sie im letzten Jahr gebracht haben, muss auf jeden Fall anerkannt werden. Auch in diesem Jahr. Sie spielen das erste Mal in den englischen Wochen. Sicherlich hätten sie sich mehr ausgerechnet, trotzdem finde ich die Leistung gut. Rein fußballerisch haben sie mit gutem Fußball die Liga aufgefrischt. Alles andere drum herum ist für mich Außenstehender schwierig einzuschätzen und ich möchte es daher auch nicht bewerten. (eis)