Jens Nowotny: „Jürgen Klinsmann sagte mir 2006 am Telefon, dass ich dabei bin“

Im Gespräch mit dem PFALZ-ECHO gibt der ehemalige Nationalspieler Jens Nowotny Einblick hinter die Kulissen der WM 2006

Gibt es Nachwirkungen von der Fußball-Karriere?

Jens Nowotny: Ja, doch, die gibt es schon. Ich muss täglich etwas für meine Knie machen. Wenn dort die Stabilität nachlässt, habe ich auch Schmerzen. Aber ich kann sagen, dass ich gesund und munter bin. Die Familie ist gesund, ich kann also nicht klagen.

Aber Sie spielen noch Fußball, oder?

Jens Nowotny: Ja, ab und zu zaubere ich noch. Ich möchte mich bewegen und Spaß haben – natürlich macht es auch Spaß, zu gewinnen, aber nicht auf Biegen und Brechen.

Ihre Karriere ist schon lange beendet, dennoch werden Sie immer noch gefeiert…

Jens Nowotny: Man muss fairerweise dazu sagen, dass es aus Leverkusen in den letzten 20 Jahren nicht so viele bekannte Fußballer gab, die überregional auch namentlich bekannt sind. Das liegt auch daran, dass Leverkusen für viele eher eine Durchgangsstation ist. Viele ehemalige Fußballer, die für Leverkusen gespielt haben, leben heute in München oder auch in Südamerika. Die wenigsten bleiben in der Region. Wir hatten vor Kurzem ein Spiel gegen ehemalige Dortmunder Fußballer – da kommen schon einige Namen zusammen: Oliver Neville, Frank Mill, Bernd Schneider, Simon Rolffes, Ulf Kirsten.

Markus Eisel (links) traf Jens Nowotny. (Foto: privat)

Bei den Spielen geht es aber hauptsächlich darum, Spaß zu haben…

Jens Nowotny: Auch da gibt es den ein oder anderen Spieler, der über die Stränge schlägt.

Sie waren 2006 bei der Fußball-Weltmeisterschaft und dem Sommermärchen dabei – kommen da, jetzt kurz vor der Weltmeisterschaft 2018, Erinnerungen hoch?

Jens Nowotny: Absolut. Bekanntgabe der Spieler, der Trainer ruft dich an, Trainingslager – das sind Abläufe, die immer gleich sind und auch bleiben, unabhängig von dem Trainer.

Ruft der Trainer persönlich an oder der Co-Trainer?

Jens Nowotny: 2006 hat mich Jürgen Klinsmann persönlich angerufen. Die Jahre davor war es irgendwie klar, dass man dabei ist. 2006 war es eher außergewöhnlich, dass ich noch mitdurfte, deshalb hat Jürgen Klinsmann direkt angerufen.

Die WM 2006 war im eigenen Land, die Stimmung war wahnsinnig – hat man als Spieler mitbekommen, was da um einem herum passiert?

Jens Nowotny: Im Nachgang. Aber währenddessen hat man schon mitbekommen, dass z.B. der Fan-Andrang von Spieltag zu Spieltag größer wurde. Nach dem ersten Spiel kam man nachts um 2 Uhr zurück und da standen 200 Leute, nach dem zweiten Spiel 500, nach dem dritten Spiel 800 – die Stimmung war unglaublich. Das wurde mir aber erst so richtig nach dem Spiel um Platz drei in Stuttgart bewusst. Für Oliver Kahn war es das letzte Länderspiel, wir haben uns umarmt – damals hatte ich mit Oliver Kahn zusammen die Karriere gestartet, auch in der Nationalmannschaft waren wir immer zusammen. Wir haben uns also nach dem Spiel umarmt und zwei, drei Sätze gewechselt und die waren intensiv. Intensiv war aber auch die Ehrenrunde mit Bernd Schneider zusammen. Wenn ich heute gefragt werden, welcher Moment in meiner Karriere für mich der größte war, sage ich immer als Bernd und ich die Ehrenrunde nach dem Spiel um Platz drei gedreht habe, es gab ein Feuerwerk, ich habe unseren Sohn in dem Armen von meinem Vater auf der Tribüne gesehen. Durch den Film Deutschland ein Sommermärchen wurde mir erst bewusst, dass wir am Ende der WM in Berlin vor einer Million dir und der Mannschaft zujubelnder Menschen gestanden sind. So etwas erleben nicht viele Menschen – selbst die größten Stars nicht. Wir waren 23 Menschen auf der Bühne, plus Trainer und Staff vielleicht 30 Menschen – und diese eine Million Menschen vor der Bühne waren wegen uns da.

Große Emotionen…

Jens Nowotny: Man muss aufpassen, dass man auch wieder in die Realität zurückkehrt, weil das war keine Normalität. Nach der Euro z. B., als wir schon nach der Vorrunde ausgeschieden sind, sah die Normalität anders aus, da haben sie dich zerrissen. Aber dennoch: Wenn man sich den Film ansieht, nimmt man die Emotionen mit – das kann mit Sicherheit manchen einen richtigen Pusch im Leben geben.

Im Trainingslager wird vor der WM aus den Spielern eine Einheit geformt – wünscht man dann auch seinem Konkurrenten, dass er gute Spiele zeigt?

Jens Nowotny: Man sollte sich nicht in einen Spieler reinversetzen, wenn man selbst auf der Bank sitzt – so könnten negative Gedanken entstehen: Warum spiele ich nicht, der ist doch schlecht, hoffentlich verletzt er sich. Da muss man einfach vorsichtig sein. Als Jürgen Klinsmann mich angerufen hatte damals, hatte ich ein halbes Jahr nicht gespielt. Dann durfte ich wieder ran, wir hatten Erfolg, ich war in Anführungszeichen alt, keiner hatte damit gerechnet, dass ich mitfahren darf – das heißt, ich hatte nie Forderungen gestellt und war weit davon entfernt in diese Richtung Gedanken zu hegen.

War der Wunsch nicht da, aufgestellt zu werden?

Jens Nowotny: Diesen Wunsch hat jeder und auch diesen Anspruch. Aber du musst dafür etwas tun und dich im Training beweisen. Die Elf, die spielen, stehen im Fokus und die laufen aus, wenn du selbst zwischen den Spielen ins Training fährst. Einen Tag später haben die Elf ein gesondertes Training und du musst diese Spannung erhalten – das ist nicht so einfach. Das ist die Schwierigkeit für einen Trainer, die Spieler, die nicht von Anfang an spielen, bei der Stange zu halten.

Sind Sie in ein Loch reingefallen, als Sie Ihre Karriere beendet haben?

Jens Nowotny: Nein, gar nicht. Ich hatte ja wegen einer Verletzung meine Karriere beendet. Die Entscheidung, aufzuhören fiel für mich an Weihnachten. Ich wollte mit unserem Sohn Fußball spielen und hatte Schmerzen. Irgendwann stellst du dir schon die Frage, für was? Bei mir gab es nie die Intention, Fußball des Geldes wegen zu spielen. Wenn ich nicht mehr mit meinen Kindern spielen kann, weil ich Schmerzen habe – da ist es für mich kein Geld der Welt wert, weiter Fußball zu spielen.

Hatten Sie sich vorab Gedanken darüber gemacht, was Sie nach der Fußball-Karriere machen wollten?

Jens Nowotny: Für viele mag das arrogant klingen, aber ich habe miterlebt, wie meine Eltern oder die Eltern anderer 50 Jahre lang hart arbeiten und keine Zeit mehr für das Wesentliche im Leben haben. Viele erleben nicht mit, wie ihre Kinder groß werden, weil sie arbeiten müssen. Ich hab immer gesagt, solange das Geld reicht, mache ich erst einmal nichts und bin einfach nur für meine Kinder und meine Familie da.

Es gibt viele Themen im Sport wie Depressionen – heute spricht kaum noch jemand über den Selbstmord von Robert Enke – oder Homosexulität, die heute noch tabuisiert werden…

Jens Nowotny: Wir leben in einer heuchlerischen Gesellschaft – und da beziehe ich mich mit ein. Robert Enke begeht Selbstmord und es wird eine große Beerdigung inszeniert – und später hängen Fans Manuel Neuer als Puppe an einen Galgen. Oder erinnern wir uns an die Weltmeisterschaft in Brasilien: In den Städten gab es Unruhen wegen der schlechten Arbeitsbedingungen, mangelnder Ausbildung und mangelnder Sicherhit – und trotzdem fahren wir zur WM. Das ist heuchlerisch – und Russland… Und dann will niemand was davon gewusst haben. Heutzutage hat jeder Spieler einen persönlichen Berater.

Gab es für Sie während Ihrer aktiven Zeit auch Situationen, in denen sie mental an Ihre Grenzen gestoßen sind?

Jens Nowotny: Grundsätzlich ist erst einmal jeder anders. Jeder geht anders mit Druck um. Es gibt nicht wenige, die sagen: Du hattest vier Kreuzbandrisse, bist zurückgekommen und hast dann noch eine WM gespielt – Chapeau! Ich sag das jetzt so lapidar. Aber nach dem vierten Kreuzbandriss habe ich mich schon gefragt, wie oft mir das noch passieren kann. Mein Arzt sagte damals zu mir, dass Bänder und Sehnen nicht das Problem wären, die könnte man rausnehmen, problematischer seien die Bohrkanäle, da diese porös würden. Meine erste Drucksituation war bei einer schwerwiegenderen Verletzung. Ich habe in der Jugendnationalmannschaft gespielt, wir waren in Moldavien. Nur kurz nach Anpfiff des Spiels haut mir jemand den Ellenbogen ins Gesicht – Jochbeinbruch. Im Krankenhaus lernte ich dann ein Kind kennen, das nur noch ein Auge hatte. Nach meinem dritten Kreuzbandriss lernte ich im Flugzeug einen Mann kennen, der mir alles Gute wünschte – selbst hatte er nur noch einen Arm. Es gibt so viel Leid in der Welt – und ich bemesse meine eigenen Probleme halt daran. So denke und handle ICH – ich kann aber nicht für andere sprechen.

Haben Sie heute noch Bezug zu dem Karlsruher SC? Sie gehören noch zu der Generation, die sich durch eine gewisse Vereinstreue auszeichnet…

Jens Nowotny: Angebote hatte ich – von Arsenal London, Bayern München –, aber es gab für mich keinen Grund zu gehen, sei es aus Vereinstreue oder aus Bequemlichkeit. Schade ist nur, dass dir niemand dafür dankt. Ich wurde als abgezockt und raffgierig bezeichnet, und obwohl jeder wusste, dass ich ein Angebot von Arsenal hatte, wo ich das Dreifache netto verdient hätte, bin ich in Leverkusen geblieben. Vereinstreue gibt es heute auch noch, nur, wenn du richtig gut bist, bekommst du anstelle von drei Millionen bei deinem Verein bei Manchester City zehn Millionen geboten…

Wer wird die Weltmeisterschaft 2018 gewinnen? Haben Sie einen Favoriten?

Jens Nowotny: Frankreich. Deutschland sehe ich ehrlich gesagt leider nicht ganz oben. Bei der WM in Brasilien habe ich von Anfang an gesagt, Deutschland wird Weltmeister. Da hatte ich das volle Vertrauen.

Dieses Mal nicht?

Jens Nowotny: Ich habe das Gefühl, dass die Spieler überheblich geworden sind und eine arrogante Spielweise an den Tag gelegt haben. In der Vorrunde spielen wir gegen Mexiko, Südkorea und Australien – das ist wie Gruppenphase bei der Champions League. Da könnte es schwierig werden, die Arroganz rauszukriegen, ich erwarte das Schlimmste. Aber ich fiebere natürlich schon mit und bin ein Fan von Deutschland, ganz patriotisch. (eis)