Steckbrief

Jürgen Trittin

Geboren am 25 Juni. 1954 in Bremen

1975-1981 Studium der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.Studienabschluss als Diplom-Sozialwirt.

Seit 1980 Mitglied bei den Grünen-Partei

Seit 1998 im deutschen Bundestag

1998-2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

2009-2013 Gemeinsam mit Renate Künast Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen

Heute ist er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Jürgen Trittin lebt derzeit in Berlin und Göttingen

Jürgen Trittin spricht Klartext. Markus Eisel traf sich mit dem Politiker in Berlin. (Foto: privat)

Halten Sie die Maßnahmen der Bundesregierung und des Bundesgesundheitsministers bei der Bewältigung der Corona-Krise für richtig?

Jürgen Trittin: Es ist jetzt absolut notwendig für eine Verlangsamung der Infektionsrate in der Bevölkerung zu sorgen. Solange es keinen Impfstoff gibt und wir davon ausgehen müssen, dass die Infektionsrate weiter so schnell steigt, gibt es dazu keine Alternative. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass diejenigen, die darauf angewiesen sind, tatsächlich medizinisch betreut werden können. Bei der Umsetzung allerdings zeigen sich die Schwierigkeiten eines föderalen Staates, wodurch es nicht immer zu einer einheitlichen Vorgehensweise kommt. Aber im Allgemeinen folgen alle den Ratschlägen der Wissenschaft. Man hat keine Panik, aber man ist auch nicht untätig. Aber natürlich sind die Maßnahmen für jeden Einzelnen einschneidend. Es fühlt sich paradox an, durch Distanz Fürsorge zu praktizieren.

Die Maßnahmen haben auch enorme wirtschaftliche Folgen.

Jürgen Trittin: Ja, an einer Rezession kommen wir wohl nicht vorbei. Zumal wir diese ja schon seit längerer Zeit vor der Haustür haben. Schon vor einem halben Jahr, lange vor dem Auftreten der ersten Corona-Fälle, haben die Grünen gefordert, einen großen Investitionsimpuls zu setzen, um dem drohenden Abschwung entgegenzuwirken. Ökonomisch gesprochen ist Corona nur der Anlass und der Brandbeschleuniger für das, was aus anderen Gründen zu erwarten war. Man kann nicht ernsthaft erwarten, dass auf über zehn Jahre ansteigende Konjunktur weitere zehn oder elf Jahre folgen. In bestimmten Branchen, wie Tourismus und Verkehr, wird es jetzt aber natürlich viel härtere Einschnitte geben als in anderen. Diesmal trifft es vor allem viele kleine Selbstständige.

Es werden wahrscheinlich auch Lieferketten unterbrochen, oder?

Jürgen Trittin: Das weiß man noch nicht. Wir bekommen gerade vorgeführt, wie vernetzt diese Welt ist. Jetzt beißen sich populistische Maßnahmen und das ökonomisch Vernünftige. Wenn Herr Kurz verkündet, er habe den Brenner dicht gemacht, dann hat er ihn in Wahrheit nur für den Personenverkehrt dicht gemacht – und in Ischgl durften beim Apres-Ski noch lange Coronapartys gefeiert werden. Aber inzwischen haben Volkswagen, Mercedes und BMW die Produktion ausgesetzt.

Inwieweit lässt der Populismus, wie er von der rechten Seite angefeuert wird, überhaupt noch Entscheidungen zu? Wenn 1.500 Kinder an der griechischen Grenze abgewiesen werden, ist das noch human?

Jürgen Trittin: Man sollte den Begriff Populismus präzise benutzen. Die AfD ist keine populistische, sondern eine offen rassistische, völkisch-nationalistische Partei, die in weiten Teilen, etwa in Thüringen, zu Recht auch als eine faschistische Partei eingestuft wird. Es wäre verharmlosend, diese Partei als populistisch zu bezeichnen. Die Angst vor den Rassisten und völkischen Nationalisten führte bei der großen Koalition zu eklatanten Lähmungserscheinungen. Sie haben zum Beispiel aus Angst vor der AfD keine Anstrengung unternommen, den Kohleausstieg umzusetzen. Als sie ihn schließlich umgesetzt haben, kostete es 134 Millionen Tonnen Treibhausgase mehr, weil sie zu feige waren, den Kohlekompromiss zwischen Industrie, Gewerkschaften und Umweltverbänden umzusetzen. Sie haben sich die Schließungstermine einfach nicht zugetraut, und das obwohl alle im Osten wie im Westen wissen, dass Kohle eine endliche Veranstaltung ist. Das ist die eine Wirkung des Populismus. Eine andere Wirkung sieht man bei der Flüchtlingsproblematik. Zwar wird ständig gesagt: 2015 darf sich nicht wiederholen! In Wirklichkeit wiederholt sich 2015 aber gerade. Denn es gibt heute wie damals kein Bewusstsein dafür, dass wir es mit einem europäischen Problem zu tun haben, für das wir europäische Lösungen brauchen. Darüber, was gerade auf den griechischen Inseln passiert, kann man nur den Kopf schütteln. Es geht nicht darum, Grenzen aufzumachen, sondern 1.500 unbegleitete Kinder in eine menschenwürdige Unterbringung zu bringen. Man muss in diesen Zeiten den Mut haben, den rechten Rassisten entgegen zu treten und ihnen zu sagen, dass es sich um ein europäisches Problem handelt und dass Griechenland als unserem Partnerland geholfen werden muss. Diesen Mut würde ich von SPD und CDU erwarten. Wir Grüne haben mit einer solchen Haltung sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Leute belohnen nicht, wenn eine Partei aus Angst vor dem Wähler oder dem rechten Rand ihnen nach dem Munde redet.

Die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge sind so komplex, da braucht es klare Ansagen. Es wäre auch für die Parteien selbst der bessere Weg, klare Kante zu zeigen.

Jürgen Trittin: Die Menschen sind erwachsen. Die Meisten wissen, dass die Welt nicht einfach ist. Sie befinden sich ständig in Zielkonflikten und so ist es auch mit politischen Problemen. Es gibt nicht die Eine-für-alle-Lösung. Wenn man sich für das eine entscheidet, geht auf der anderen Seite vielleicht weniger. So ist das. Es geht darum zu entscheiden, welcher der relativ beste Weg ist. Abseits der Coronakrise hat die Automobilbranche ein echtes Problem, das darauf beruht, dass sie ein Jahrzehnt lang jede Form von Regulierung durch aggressives Lobbying verhindert hat und die Politik ihr dabei immer hinterhergelaufen ist. Die Strategie der deutschen Automobilindustrie, die Weltautomobilmärkte mit Hilfe des Diesels zu erobern, ist krachend gescheitert.

Während dieser Zeit waren Sie auch in der Regierung.

Jürgen Trittin: Ja, ich kann Ihnen meine Bilanz gerne zeigen. Wir haben die Autoindustrie zu einer Altauto-Richtlinie gezwungen und haben den Partikelfilter durchgesetzt. Ich weiß, wovon ich rede! Deshalb haben die uns ja auch so gehasst. Und dann kam 2005 die erste von drei Großen Koalitionen und für die Autolobby war die Welt wieder in Ordnung. Sie bestimmten die Richtlinien der Politik.

Ist das Elektroauto nach Ihrer Ansicht der richtige Pfad?

Jürgen Trittin: Gegenfrage: Wer kann schon am chinesischen Markt vorbeiproduzieren?

Es gibt ja auch noch andere Modelle, wie zum Beispiel den Wasserstoff.

Jürgen Trittin: Ja, allerdings muss man immer die Frage der Primärenergieeffizienz im Kopf behalten. Die Wasserstofftechnik wurde ursprünglich in Deutschland entwickelt, aber zu Gunsten von Diesel wieder eingestellt. Wenn man Wasserstoff aus erneuerbaren Energien produziert, dann ist der emissionsfrei. Wenn man ihn anschließend in einer Brennstoffzelle nutzt, um einen Elektromotor anzutreiben, dann haben Sie eine Energieeffizienz gemessen an der primär eingesetzten Energie von rund 25 Prozent. Wenn Sie mit der gleichen Energie eine Batterie aufladen, dann haben Sie eine Primärenergieeffizienz von 70 Prozent. Ich bin für die Wasserstoffstrategie als Zwischenspeicher. Aber die Idee, aus Strom Wasserstoff zu machen, um dann aus Wasserstoff wieder Strom zu machen, um damit Autos anzutreiben, die ist bizarr.

Tatsache ist, dass wir mal einen Vorsprung gehabt haben.

Jürgen Trittin: Ja, aber der ist weg, was aber auch an den Effizienzverlusten liegt, die sich in den Kosten niederschlagen. Die Menschen verstehen schon, dass es Schwierigkeiten gibt. Aber man muss ihnen die verschiedenen Alternativen zur Lösung von Problemen aufzeigen und dann sagen, für welche man unter Abwägung der Vor- und Nachteile plädiert.  

Aber wie kann man das den Menschen vermitteln? Es gibt da nach meiner Meinung auch ein Bildungsproblem, das mit dem Rechtspopulismus einhergeht.

Jürgen Trittin: Das ist mir zu billig. Die Rechtsradikalen im Bundestag haben die höchste Professorenquote. Auch unter denen, die das Gedankengut verbreiten, kann ich Ihnen viele formal Hochgebildete nennen. Es ist nicht so, dass nur wenig gebildete Menschen rechts wählt. Bei der Bundestagswahl konnte die AfD im Freistaat Bayern, einer Region mit einer weit unterdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit und dem zweithöchsten Haushaltseinkommen, die meisten Stimmen im Westen holen. Ich glaube, dass es denen, die AfD wählen darum geht, ihren sozialen Status zu verteidigen. Den verteidigen sie aber nicht gegen Oben, denn da wollen sie ja selber hin, sondern sie treten nach unten. Das ist kein unbekanntes Phänomen. Das ist keine Bildungs- sondern eine Haltungsfrage. Eines ist aber auch klar: über Rassismus kann man nicht diskutieren. Jemanden mit einer rassistischen Einstellung, der aus dem Rassismus persönliche Vorteile zieht, können sie nicht davon überzeugen, diese Vorteile nicht mehr zu haben. Neben dem Rassismus pflegt die AfD mittlerweile ein militantes Klima-Leugnertum. Bei diesem Thema treten sie gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse an. Das ist wie beim Thema Kohle. 

Leider gibt es bei den Windrädern das Problem der Ästhetik.

Jürgen Trittin: Ich finde sie sehr ästhetisch. Vor allem weit weniger hässlich als Braunkohlekraftwerke mit ihren Dampfwolken und ausgekohlten Landschaften. Die Akzeptanzfrage bei Windrädern entscheidet sich an der Frage, wie stark bin ich selber daran beteiligt. In Norddeutschland gibt es ein erprobtes Modell mit Bürgerbeteiligung an Windrädern. Das Problem ist oft, dass die Bürger nichts davon haben und zudem der Wert der Grundstücke runtergeht. Das ist aber ein ökonomisches Argument. Als letzten Ausweg, die Windräder zu verhindern, fällt ihnen dann zum Beispiel der Rotmilan ein. Dabei geben diejenigen, die den Milan thematisieren oft selber zu, dass sie am Naturschutz gar nicht interessiert sind. Aber wenn dann Argumente des Naturschutzes ins Feld geführt werden, dann ist das ein Missbrauch des Naturschutzes, den man nicht akzeptieren kann. Parallel zum Ausbau der Windräder in Mecklenburg-Vorpommern hat sich der Bestand der Seeadler erhöht. Das gleiche gilt für Fledermäuse. Und wenn die Winter weiterhin so warm sind und sich dadurch das Nahrungsangebot auf den Feldern erhöht, wird auch die Zahl der Rotmilane nach oben gehen. Wenn wir aber Bürger individuell und auch als Dorfgemeinschaft an den Windrädern profitieren lassen, dann gibt es eine große Akzeptanz und dann redet keiner mehr über die Ästhetik der Windräder. 

In Luxemburg wird gerade ein Modell realisiert, bei dem der öffentliche Nahverkehr kostenlos ist. Was denken Sie darüber?

Jürgen Trittin: Ich war letztes Jahr selbst mit dem Rad in Luxemburg unterwegs und konnte sehen, dass überall neue Straßenbahnschienen verlegt und Radtrassen gebaut worden sind. Die Infrastruktur ist also massiv in den Stand versetzt worden, dass sie das überhaupt tun konnten. Das vergessen manche Leute, die für den Null-Tarif oder das 365-Euro-Ticket plädieren. Es würden einfach nur zusätzliche Fahrgäste in die schon jetzt total überfüllten U-Bahnen drängen. Vor dem Nulltarif muss man Geld in die Hand nehmen und investieren. (eis)