Pierre Littbarski: „Bei mir ist das Glas immer halb voll …“

Unter vier Augen: Der Fußball-Weltmeister und spätere Trainer Pierre Littbarski über den Beginn seiner Karriere, Herzklopfen bei Länderspielen und Eindrücke aus seiner Zeit als Fußballtrainer in Japan und im Iran

Fußball-WM 1990 in Rom: Pierre Littbarski (vorne) setzt sich gegen die Spieler aus den Niederlanden Ronald Koeman (heute Trainer des FC Barcelona), Berry van Aerle und Adrie van Tiggelen (von links) durch. (Foto: Imago)

Steckbrief: Pierre Littbarski

  • Geboren am 16. April 1960 in West-Berlin
  • Erstes Bundesligaspiel 1978 für den 1. FC Köln gegen den 1. FC Kaiserslautern auf dem Betzenberg
  • Wechsel 1986 nach Frankreich zu Racing Paris, 1987 Rückkehr zum 1. FC Köln, 1993 Wechsel zu JEF Ichihara in die japanische J. League
  • 1999 bis 2000 Trainer des Yokohama FC in Japan, 2004 Trainer Sydney FC in der autralischen A-League, 2006 erneut Trainer in Japan, Avispa Fukuoka. Danach als Trainer des iranischen Vereins Saipa Teheran, 2008 bis 2010 vom Liechtensteiner Verein FC Vaduz als Trainer verpflichtet, 2010/11 Trainer und Co-Trainer beim VfL Wolfsburg
  • 2012 bis 2018 Leiter des Arbeitsbereiches „Spielerbeobachtung und Enwicklung“ des VfL Wolfsburg
  • 73 Länderspiele für die deutsche Nationalmannschaft mit 18 erzielten Toren

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Herr Littbarski, wie geht es Ihnen denn?

Pierre Littbarski: Hervorragend! Ich bin einer, der die Dinge so nimmt, wie sie kommen. Mir persönlich hilft Rumjammern nicht weiter. Ich habe mein Leben etwas umgestellt nach dem japanischen Motto „Keep yourself busy“, also weiter beschäftigt sein, dann vergisst man ein bisschen die Sorgen. Ich lerne auch neue Dinge, zum Beispiel Kuchen backen. (lacht) Außerdem trainiere ich viel und überbrücke so meine Zeit.

Was heißt „trainieren“?

Pierre Littbarski: Nach meiner Knieoperation bin ich jetzt wieder einigermaßen hergestellt. Ich jogge, fahre Mountainbike und bewege mich so durch die Wolfsburger Landschaft.

Kicken geht nicht mehr?

Pierre Littbarski: Ich spiele noch gegen meinen Sohn, eins gegen eins, habe da aber dreimal hintereinander schwere Niederlagen einstreichen müssen (lacht). Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass mein Sohn in der Wolfsburger U19 spielt. Das ist Hardcore, da hast du keine Chance, der überrennt dich …

Sie haben unwahrscheinlich viel erlebt, nicht nur als Fußballer sondern auch als Trainer. Sie sind ein Kosmopolit, ein Weltbürger …

Pierre Littbarski: Ich wollte einfach keine Langeweile haben. Es gab deshalb selten Leerlauf. Zu Hause sitzen ist doch eher eintönig.

Und Japan war ein einschneidender Bereich in Ihrem Leben?

Pierre Littbarski: Ja, wahrscheinlich passte das auch gerade. Und das Timing von Älter-werden und Auf-eine-neue-Kultur-Treffen war dann doch sehr einschneidend. Die Art, wie die Menschen in Japan miteinander umgehen, macht einem klar, dass es doch noch andere Wege gibt, miteinander zu kommunizieren. Es gibt sogar den Weg des Respekts – also miteinander in Kontakt sein, ohne gleich betonen zu müssen, was man selber gut und der andere eben nicht kann. Das war eines der beeindruckendsten Dinge, zu erleben, mit welchem Respekt Japaner miteinander umgehen.

Sie sind damals mit 18 Jahren von Hertha Zehlendorf nach Köln gewechselt …

Pierre Littbarski: … und das, obwohl ich Mönchengladbach-Fan war! 1978 ist der 1. FC Köln Deutscher Meister und Pokalsieger geworden. Da gab es dieses unglaubliche Spiel Borussia Mönchengladbach gegen Borussia Dortmund, welches die Gladbacher 12:0 gewonnen haben. Im Gegenzug gewann aber Köln in St. Pauli 5:0. Und weil ich jahrelang Gladbach-Fan war, hatte ich mich fürchterlich über dieses 5:0 aufgeregt, während das 12:0 für mich eine ganz normale Sache war. Als der 1. FC Köln Meister wurde, hatte ich mich also richtig geärgert. Damals konnte ich mich noch platzieren, denn eigentlich hatte ich mit einer Profilaufbahn bereits abgeschlossen. Dann setzten wir uns gegen die A-Junioren des 1. FC Köln durch, und kurz danach kam ich schlussendlich zu der Mannschaft, die ich eigentlich gar nicht mochte, und habe gelernt, sie zu lieben. So geht das im Leben … (lacht)

Also ist Köln noch im Herzen?

Pierre Littbarski: Ja, natürlich. Man schaut da schon immer noch drauf. Auch der 1. FC Kaiserslautern geht mir nicht am Hintern vorbei – und das sage ich nicht nur, weil Sie aus der Pfalz kommen. Im Lauterer Stadion habe ich oft auch mit Angst gespielt, da ging es ja auch immer recht rustikal zur Sache. Und jetzt: die groß aufgebaute Infrastruktur ohne Bundesliga – das ist schon ganz schön heftig. Und auf den FC Köln schaue ich eben auch besonders. Dort gibt es noch Leute, von denen der eine oder andere vielleicht auch noch mir zugejubelt hat. Und ich leide schon mit der ganzen Situation mit und drücke die Daumen. Zuletzt haben es die Kölner ja gut gemacht …

Bei Ihrem Wechsel nach Köln 1978 war Hennes Weisweiler noch Trainer. Wie groß war Ihre Ehrfurcht vor dieser Trainerlegende?

Pierre Littbarski: Da gibt es eine Anekdote dazu, wie er mich fast in die Knie gezwungen hätte. Wir waren im Trainingslager in Grünberg und ich hatte damals das Gefühl, eine Chance zu haben, in die Startelf zu kommen. Abends saßen wir mit der Mannschaft zusammen und Weisweiler sagte zu mir: „Litti, jetzt trink‘ mal ein Kölsch.“ Und ich sagte: „Nee, das trinke ich nicht.“ Daraufhin Weisweiler: „Wenn du das Kölsch nicht trinkst, spielst du bei mir nicht.“ Was soll ich sagen, das war für mich eine extrem schwierige Situation. (lacht) Ich bin eben auch stur und meinte: „Ich trinke das Bier auf keinen Fall!“ Aber anscheinend hat Weisweiler das auch imponiert, fußballerisch hat es wohl auch gereicht, und so war der Torschützenkönig Dieter Müller auf der Bank und ich habe gespielt. Weisweiler war schon ein toller Trainer. Er hat aus vielen jungen Spielern was Großartiges gemacht.

Sie sind noch immer Rekordtorschütze bei der U21-Nationalmannschaft.

Pierre Littbarski: Ich glaube, da hat mittlerweile Luca Waldschmidt gleichgezogen oder sogar etwas draufgelegt. Ich weiß noch, dass ich einen Tag zu Hause saß und heulte, weil der Rekord weg war … (lacht)

Sie waren Fußballweltmeister, Sie haben 73 Fußballländerspiele gemacht – war es immer etwas Besonderes, zur Fußballnationalmannschaft zu fahren, oder wird das irgendwann normal?

Pierre Littbarski: Ich war ja ein bisschen verrückt und hatte teilweise noch U21 und A gespielt. Und weil ich immer lieber spielen als trainieren wollte, hab‘ ich auch noch freiwillig in dieser Nachwuchsrunde gespielt, die es damals noch gab. Und Nationalmannschaft, das war schon was. Du hast ein Paar schöne Fußballschuhe und Klamotten bekommen, du durftest mal einen Werbespot machen, da lief immer was Tolles. (lacht) Im Ernst, bei den Spielen der Nationalmannschaft hat dir immer das Herz geklopft!

Die ganze Nation ist Fan bei Spielen der Nationalelf. Das hat schon was, oder?

Pierre Littbarski: Absolut. So ein Gefühl, wenn du gegen Argentinien oder Italien spielst, kannst du nicht simulieren. Allein deshalb war das für mich immer etwas Besonderes.

Waren Sie im Endspiel 1990 wirklich verletzt?

Pierre Littbarski: Ja, ja. Im Viertelfinale hat mich der Tscheche Chovanec in der letzten Minute gefoult und mein Kreuzband war angerissen. Das hat richtig weh getan. Und im Halbfinale hatte ich dann auf der Tribüne gesessen, weil Beckenbauer gegen die Engländer eben ganze Kerle brauchte und wohl gemerkt hatte, dass mir etwas weh tat. Aber bis zum Finale konnte ich es kaschieren und habe dann mit angerissenem Kreuzband gespielt. Das klingt jetzt schlimmer, als es ist. Du hast ja einen Adrenalinausstoß ohne gleichen und die gut ausgebildete Muskulatur hat vieles ausgeglichen und gestützt.

Sie sind als 18-Jähriger von Berlin nach Köln gewechselt, Ihr Sohn spielt U19. Kann man die neue Generation mit ihren intensiven Trainingsmethoden und den ganz anderen Herangehensweisen denn noch vergleichen mit den Spielern damals?

Pierre Littbarski: Ich habe ja mit meinem Sohn noch richtig „gebolzt“. Wir hatten einen Garten, den wir zum Bolzplatz umfunktioniert hatten. Mein Sohn hatte also noch das Glück, beide Seiten, also „The Best of Ball’s World“, das Bolzen und die Ausbildung an der Akademie, kennen zu lernen. Darüber bin ich glücklich, aber auch ein bisschen neidisch. Was heute in der Ausbildung alles gemacht wird, wie zum Beispiel Vor- und Nachmittagstraining, Trainingslager, Spielvorbereitung, das ist nicht vergleichbar. Wir haben damals auf dem Berliner Schotterplatz die 90 Minuten abgespult, das war unsere Ausbildung …

Aber man war eben damals nicht so gläsern und stand nicht so in der Öffentlichkeit. Man konnte mehr Späße machen …

Pierre Littbarski: Ja, ich wäre verloren gewesen, wenn das, was wir damals alles gedreht haben, direkt an die Öffentlichkeit getragen worden wäre. (lacht)

Sie waren Fußballprofi, Trainer, Co-Trainer, Scout, Markenbotschafter, Co-Kommentator, machen Show im Dritten …

Pierre Littbarski: … und ich war Vereinsgründer, zusammen mit Yasuhiko Okudera. Aus der Not heraus. Der Fußballklub Yokohama, der heute in der ersten Liga spielt, war pleite gegangen und hatte die Mannschaft vollkommen aufgelöst. Wie es in Japan üblich ist, wurden danach alle Spieler auf andere Vereine verteilt. Yokohama hatte damals von 25 Spielern zehn beim Lokalrivalen geparkt. Das wäre in etwa so, als wären zehn Schalker nach Dortmund gegangen … (lacht) Ein Teil der Fans wollte den Lokalrivalen aber nicht unterstützen. Sie nahmen Geld in die Hand, kamen zu mir und sagten: „Wir wollen eine eigene Mannschaft!“ Also haben wir 25 Spieler organisiert, ein Trainingsgelände und alles, was dazu gehört und haben einen neuen Verein gegründet. Wir sind dann zweimal aufgestiegen und jetzt haben sie’s sogar in die erste Liga geschafft. Das war mit die schönste Geschichte in meinem Leben …

Littbarski im Interview. (Foto: VfL Wolfsburg)

Sind Sie ein sehr neugieriger Mensch?

Pierre Littbarski: Am Anfang war ich erst recht vorsichtig. Und mit Japan hatte ich eigentlich gar nichts am Hut. Ich hatte mir Essen mitgenommen und einen Fünf-Monats-Plan und wollte danach gleich wieder nach Hause. Erst, als ich bereits dort war, hatte ich auch Spaß daran gefunden, in einem anderen Land zu sein und dort etwas zu schaffen.

Und wie wird man Trainer im Iran?

Pierre Littbarski: Da muss man ein bisschen bekloppt sein. (lacht) Das war so: Fast direkt nach dem Rausschmiss bei Avispa Fukuoka bekam ich einen Anruf: eine iranische Mannschaft sei gerade in der Türkei im Trainingslager und suche einen Trainer. Einen Tag später war ich dort. Und die haben mit dann einen Vertrag vorgelegt, auf dem der Name meines Vorgängers, Werner Lorant, drauf stand – man muss sich das einmal unter datenschutztechnischen Aspekten vorstellen – und fragten mich, ob das denn so okay sei. Eigentlich hätte ich da schon wachsam sein sollen. Aber es war trotzdem eine interessante Zeit.

Rückblickend auf Ihre bis jetzt hinter Ihnen liegende Laufbahn machen Sie einen sehr zufriedenen Eindruck.

Pierre Littbarski: Ich hatte eben das Glück, Fußballprofi zu sein. Das ist der beste Job der Welt. (lacht) Bei mir ist eben das Glas immer halb voll. Meine Frau wirft mir oft vor, dass ich zu offen den Leuten gegenüber bin. Aber damit bin ich immer ganz gut gefahren. Ich habe Spaß am Leben.