Als Mitglied der Grünen müssten Sie derzeit ja allerbester Laune sein – wie geht es Ihnen denn?

Tobias Lindner: Ich bin ehrlich gesagt etwas zwiegespalten. Natürlich freue ich mich sehr über die Wahlergebnisse meiner Partei bei den Landtagswahlen in Bayern und in Hessen. In beiden Bundesländern sind wir zweitstärkste Kraft – das ist ein großartiges Ergebnis! Aber das war harte Arbeit. Es ist kein kurzfristiger Erfolg wie beispielsweise 2011 nach der Katastrophe von Fukushima. Was mich allerdings etwas nachdenklich stimmt, ist die bundespolitische Lage. Wir haben eine veritable Regierungskrise, die Frage ist nicht, ob es zum nächsten Streit in der Großen Koalition kommt, sondern wann und worüber. Und das ist natürlich auch objektiv betrachtet bedenklich. Die Menschen möchten eine stabile Regierung, die Ergebnisse liefert.

Was denken Sie, wie es weiter geht?

Tobias Lindner: Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Wir müssen mit allem rechnen, aber wir können nicht alles vorplanen.

Wäre es Ihnen also lieber, die aktuelle Regierung würde stabil arbeiten als dass es zu einem Umbruch kommt?

Tobias Lindner: Ich mache da keinen Hehl draus: Wir Grüne haben ja nach der letzten Bundestagswahl gesagt, dass wir gerne mitregieren würden. Es ist bedauerlich, dass wir das nicht tun. Trotzdem wünsche ich mir eine Bundesregierung, die ihre Arbeit macht. Leider habe ich den Eindruck, dass das gesamte letzte Jahr ein verlorenes Jahr war. Sondierungsgespräche, Koalitionsverhandlungen, dann eine Bundesregierung, die ja eigentlich schon zur Vergangenheit gehört. Jeder weiß, es wird spätestens 2021 einen Umbruch geben, vielleicht sogar früher. Und so verhält sich auch gerade jeder: abwartend, beobachtend. Es gibt keinen, der mutig vorangeht und sich Herausforderungen stellt.
Das heißt selbst als „Grüner im Höhenflug“ sieht man die aktuelle Lage skeptisch!
Tobias Lindner: Richtig. Es geht mir ja nicht nur um meine Partei, ich will, dass es dem Land gut geht!

Geht es unserem Land denn nicht gut?

Tobias Lindner: Doch! Das will ich auch absolut nicht schlecht reden. Es geht aber um den Blick in die Zukunft. Gibt die Politik Antworten auf die Herausforderungen der Zeit? Stellen wir uns beispielsweise in der Haushaltspolitik auf das ein, was vor uns liegt? Das ist leider nicht so und das stimmt mich bedenklich.

Wäre ein Rücktritt von Angela Merkel auch als Kanzlerin dann in dieser Situation sinnvoller gewesen?

Tobias Lindner: Es liegt mir fern, Frau Merkel irgendwelche Ratschläge zu geben. Aber ich bin mir sicher, dass sich alle Mitglieder der Großen Koalition die Frage stellen, wie lange diese Konstellation noch Sinn macht. Das heißt entweder Union und SPD fassen jetzt schnell Tritt und schaffen es doch noch, Themen wirklich anzupacken. Oder – das wäre mein Wunsch, falls es doch so weiter geht wie bisher – die Bundesregierung wird abgelöst. Die Kanzlerin sollte dann den Weg frei machen und es müssten neue Mehrheiten gefunden werden.

Anne Herder traf den Politiker in seinem Landauer Büro. (Foto: privat)

In solch einer aufgeheizten Stimmung besteht ja auch immer die Gefahr, dass extreme Strömungen Aufwind bekommen. Haben Sie vor diesem Hintergrund auch manchmal Angst vor den nächsten Wahlen?

Tobias Lindner: Im Bezug auf die AfD wäre es absolut falsch, Angst zu haben. Die Partei ist eine ernsthafte Herausforderung für unser demokratisches Gemeinwesen. In manchen Punkten sicher auch eine Gefahr. Aber wer sich ängstlich vor ihnen versteckt, wird sie auch nicht bekämpfen können. Die letzten Landtagswahlen haben gezeigt: Es reicht nicht, mit dem Finger auf diese Partei zu zeigen und zu sagen, das seien die „Bösen“. Man muss sich mit ihren Inhalten auseinandersetzen und sich fragen: Haben sie wirklich alternative Lösungen? Nach einem Jahr mit der AfD im Bundestag, lautet meine Antwort darauf: Nein, sie haben zu keinem Thema eine Alternative.

Mit welchen Gefühlen würden Sie denn Neuwahlen aktuell entgegensehen?

Tobias Lindner: Was mir bei Neuwahlen Sorgen machen würde, ist die Gefahr, dass keine Mehrheiten gebildet werden können. Das Parteiensystem ist offensichtlich im Umbruch. Das heißt, selbst wenn die Grünen dann tatsächlich 15 Prozent oder sogar mehr erreichen könnten, würde uns das am Ende evtl. gar nichts nützen ohne Koalitionspartner. Im Moment hätte sicher niemand etwas von Neuwahlen. Das ist ja auch im Grundgesetz sinnvollerweise so verankert: Selbst wenn die Kanzlerin zurücktreten würde, wäre der nächste Schritt zunächst einmal neue Gespräche unter den Parteien, um Mehrheiten zu bilden. Es gibt für den Bundestag keinen „Reset-Button“, den wir einfach drücken können, nur weil wir mal Schnauze voll haben. Und das ist auch richtig so!

Die politische Umbruchstimmung ist ja nicht zuletzt auch durch heftige Diskurse in sozialen Netzwerken befeuert worden. Von außen entsteht dort häufig der Eindruck, Anhänger der AfD seien in der großen Überzahl. Haben die anderen Parteien das Internet unterschätzt und dort zu wenig investiert?

Tobias Lindner: Wir machen als Partei sehr viel in diesem Bereich, das sieht man auch an unseren Wahlkampfbudgets. Aber richtig ist: Die sozialen Netzwerke haben die Art und Weise, wie politische Kommunikation funktioniert, massiv verändert. Und diese Veränderung spielt eher extremen Kräften zu. Soziale Medien fördern erwiesenermaßen den so genannten Tribalismus – also die „Stammesbildung“. Politische Ansichten und Weltanschauungen werden dort kontinuierlich verstärkt, ganz anders als wenn man sich über Regionalzeitungen und Tageszeitungen informiert, die ein breites Themen- und Meinungsspektrum bieten. Erst vor kurzem habe ich in Berlin zu diesem Thema mit dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder ein Hintergrundgespräch geführt. Er hat die These aufgestellt, dass das Verschwinden von Regionalzeitungen in den USA dazu geführt hat, dass extreme politische Ränder gestärkt werden. Regionale und lokale Medien fungieren als neutrale Instanz, die vor Ort Fakten sortiert. Überregionale Medien sind für die Bürger schon nicht mehr greifbar genug. Viele verlassen sich dann auf soziale Netzwerke, wo aber eben auch viele Falschmeldungen kursieren.

Klingt ganz so, als sei das Internet ziemlich bedrohlich!

Tobias Lindner: Nein, es gibt auch viel Positives! Soziale Netzwerke bieten in der politischen Kommunikation auch sehr viele Vorteile. Ich komme viel schneller in direkten Kontakt mit den Leuten, werde oft auch direkt angeschrieben. Als Politiker kann man seine Botschaften direkter und breiter vermarkten.

Dadurch entsteht ja eigentlich auch eine gewisse Bürgernähe. Trotzdem habe ich den Eindruck, die Kluft zwischen Politikern und „normalen Menschen“ wird eher größer. Wie ist Ihr Empfinden?

Tobias Lindner: Ich war neulich hier im Supermarkt und wurde verwundert angesprochen, warum ich noch selbst einkaufen würde. Es scheint wirklich so zu sein, dass manche Menschen ein völlig falsches Bild von Politikern haben. Sie denken, wir leben in einer völlig anderen, abgehobenen Welt, in der wir von morgens bis abends bedient werden. Die Realität sieht natürlich ganz anders aus! Aber das Beispiel zeigt – auch in Bezug auf Soziale Netzwerke: Es geht nichts über den persönlichen Kontakt vor Ort. Ich bekomme durch die persönlichen Gespräche mit den Bürgern immer noch die meisten Rückmeldungen.

Was sind das für Menschen denn, die Sie beispielsweise in der Bürgersprechstunde ansprechen? Mit welchen Themen kommen sie auf Sie zu?

Tobias Lindner: Die Bürger, die da auf mich zukommen spiegeln tatsächlich ein komplettes Bild unserer Gesellschaft wider. Vom Kleinunternehmer, der eine ausgefallene Idee hat, über Menschen, die drohen durch das soziale Netz zu fallen, bis hin zu Leuten, die sich ehrenamtlich engagieren. Diese Gespräche sind oft sehr fruchtbar und haben für mich auch eine erdende Wirkung. In Berlin habe ich diesen Kontakt zu den Bürgern nicht.

Hat sich bei diesen Gesprächen etwas verändert in den letzten Jahren?

Tobias Lindner: Das ist schwer zu sagen. Eine Statistik dazu gibt es nicht, aber nach meinem Gefühl gibt es natürlich Themen, die in letzter Zeit verstärkt angesprochen werden wie zum Beispiel die Digitalisierung und Breitbandversorgung hier in der Südpfalz. Außerdem habe ich den Eindruck, dass sich der Umgang mit uns Grünen verändert hat. Wir sind nicht mehr die Öko-Waldschrate, sondern werden auch auf ganz andere Themen fernab der Umweltpolitik angesprochen. Auf der Straße ist leider eine leichte Radikalisierung der Sprache festzustellen. Der Ton in Deutschland ist rauer geworden. Das ist auch ein Auftrag an alle politischen Kräfte, dem wieder entgegenzuwirken.

Wie kann man das umsetzen?

Tobias Lindner: Das bedeutet nicht, dass wir „drumrumlabern“ sollten oder Themen „weichspülen“ müssen. Natürlich dürfen wir weiter kontrovers diskutieren, aber man sollte dabei auf sein Vokabular achten. Ein Beispiel, das mit in diesem Zusammenhang negativ aufgefallen ist, war vor Kurzem in der Sendung von Anne Will. Dort hat Christian Lindner von der FDP einem Kollegen von den Grünen „Klimanationalismus“ vorgeworfen. Es ist selbstverständlich das gute Recht der FDP, die Klimapolitik der Grünen vehement abzulehnen, weil sie ihnen unter anderem viel zu wenig international zu sein scheint. Aber eine solche Vokabel halte ich für absolut fehl am Platz. Wenn wir solche Diskussionen auf sprachlicher Ebene eskalieren lassen, kommen wir in unserer Demokratie – die ja auf Kompromisssuche angewiesen ist – an einen Punkt, wo wir nicht mehr gesprächsfähig sind. Das wäre eine echte Gefahr für die Demokratie!

Kommen wir nochmal zurück zur Südpfalz. Neben der Digitalisierung – welche großen Themen bewegen die Menschen hier?

Tobias Lindner: Das Thema Mobilität kommt immer wieder auf den Tisch, natürlich spielt da auch die Rheinbrücke eine große Rolle. Mein Eindruck dabei ist, dass die meisten Menschen sich natürlich darüber ärgern, täglich im Stau zu stehen, aber die Notwendigkeit der Sanierungsarbeiten nicht in Frage stellen. Was sie bemängeln, sind die mangelnden Alternativen. Warum fahren nicht mehr Straßenbahnen? Wir brauchen an dieser Stelle konkurrenzfähigen, zuverlässigen öffentlichen Nahverkehr. Einige der Themen, auf die ich angesprochen werde, sind eher ortsabhängig. In Landau kommt beispielsweise oft das Thema bezahlbarer Wohnraum auf.

Spielt auch die Klima- und Umweltpolitik in den Gesprächen eine Rolle?

Tobias Lindner: Ja, ich habe den Eindruck, die Menschen sind in diesem Bereich inzwischen mehr sensibilisiert. Gerade nach diesem Hitze-Sommer ist die Klimakrise sehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt. Hier hat es wochenlang überhaupt nicht geregnet, die Folgen sind unmittelbar zu spüren. Diese Krise ist nichts Abstraktes mehr, sondern sie betrifft die Leute im Alltag: beim Tanken, im Garten usw. Deswegen werden mir oft Fragen in Richtung Energiepolitik gestellt.

Welche Antworten haben Sie denn? Was kann man speziell in der Südpfalz im Bereich Umwelt und Energie verbessern?

Tobias Lindner: Ein Schritt wäre beispielsweise der Ausbau und die Förderung von Solar-Flächen – da ist einiges ins Stocken geraten in den vergangenen Jahren. Ich denke dabei gar nicht unbedingt an Vorschriften, die man gesetzlich verankern muss, sondern an Beratung. Warum wird ein neues Baugebiet beispielsweise nicht so konzipiert, dass es dort ein zentrales Blockheizkraftwerk gibt, an das sich alle Haushalte anschließen können? So etwas müsste aber natürlich in der Planungs- und Beratungsphase schon angegangen werden. Ich glaube auch, dass das Potential der Windenergie in der Region noch nicht optimal ausgeschöpft ist – und ich meine nicht den Wald, sondern die Fläche. Natürlich möchte niemand direkt vor der Haustür ein riesiges Windrad stehen haben, es müssen Abstände eingehalten werden. Aber man kann durchaus mehr machen als zurzeit. Ein weiterer Aspekt ist nicht nur die Energieerzeugung, sondern auch die Frage, wo eingespart werden kann: Bei öffentlichen Gebäuden gibt es ein großes Potential.

Was tun Sie denn selbst, um Energie einzusparen?

Tobias Lindner: Das ist eine gute Frage! ich bin ganz ehrlich: Als Bundestagsabgeordneter, der zwischen Berlin und der Südpfalz pendeln muss und zusätzlich als Experte für Verteidigungs- und Außenpolitik unterwegs ist, hinterlasse ich natürlich keinen kleinen CO2-Fußabdruck. Ich bin in diesem Bereich also kein Heiliger. Trotzdem versuche ich natürlich dort, wo es mir möglich ist, bewusst durchs Leben zu gehen und auch bei scheinbar kleinen Dingen anzufangen: Ich bin zwar kein Vegetarier, aber esse auch längst nicht jeden Tag Fleisch und dabei achte ich sehr auf Qualität und Herkunft. Genau wie auch bei Gemüse und Obst, das ich sehr gerne auf dem Wochenmarkt einkaufe. Außerdem habe ich mir angewöhnt, dass ich immer einen sauberen Isolierbecher bei mir habe. So kann ich unterwegs Kaffee trinken, ohne Müll zu verursachen. In meinen Büros lege ich Wert darauf, möglichst wenig Papier zu verbrauchen. So summieren sich viele Kleinigkeiten in meinem Alltag, wo ich umweltbewusst handle. Natürlich werde ich allein die Welt nicht retten, aber wenn jeder mit solchen Kleinigkeiten anfängt, ist schon viel geholfen!

Zurzeit wird bei diesem Thema auch viel über Elektromobilität geredet. Ist das wirklich eine so gute Lösung? Bei genauerer Betrachtung sind Elektroautos ja auch keine wirklich sauberen Fahrzeuge …

Tobias Lindner: Die Elektromobilität hat natürlich noch einige Defizite: Reichweite, Ladeinfrastruktur, aber auch die Verwendung seltener Erden und Metalle für Batterien ist eine Herausforderung. Hier muss man allerdings sagen, dass das viel größere Problem in den deutschen Schreibtischen liegt, wo alte Handys gesammelt werden. Die Grünen fordern hier schon länger eine Lösung in Form eines Handy-Pfandsystems, durch Umtausch-Anreize oder ein vernünftiges Recycling-System. Aber zurück zu den Elektroautos: Grundsätzlich ist das eine gute Sache, aber ich bin kein Hellseher. Deswegen haben wir als Grüne auch gesagt: Wir wollen ab etwa 2030 bis 2035 eine Regelung, dass neu zugelassene PKWs emissionsneutral sein müssen. Das ist bewusst so formuliert, um eine Technologie-Offenheit zu erhalten. Denn wir wissen heute ja noch nicht, wo die Entwicklung hinführt: Vielleicht erleben wir in fünf Jahren einen Durchbruch bei der Batterie-Herstellung, vielleicht setzt sich aber auch die Brennstoffzelle durch, oder über Solar synthetisiertes Gas als Treibstoff.

Denken Sie, dass Deutsche Autohersteller, in diesem Bereich mitreden werden?

Tobias Lindner: Deutsche Autohersteller sind auf diesem Gebiet leider etwas zurück. Sie zeigen häufig innovative Prototypen, wenn es um die Serienproduktion geht, passiert aber nicht viel. Erst vor ein paar Tagen habe ich Folgendes gelesen: „Als Angela Merkel CDU-Vorsitzende wurde, war AOL der weltweit größte internet-Anbieter, der aktuelle Österreichische Bundeskanzler war 13 Jahre alt und der größte Handy-Hersteller der Welt war Nokia!“ Und ich möchte nicht, dass Daimler, BMW oder Audi wie Nokia enden. Ich habe vorhin ja gesagt, es gehe uns in Deutschland gut, aber wir müssen schauen, dass unsere Industrie zukunftsfähig ist!

Tobias Lindner am Rednerpult. (Foto: Deutscher Bundestag/Achim Melde)

Sie sind vor ein paar Monaten Vater geworden. Wie hat sich Ihre Arbeit und ihr Blick auf die Welt seither verändert?

Tobias Lindner: Zum einen haben sich ganz alltägliche Dinge natürlich gewandelt. Gesprächsinhalte mit Kollegen zum Beispiel. Ich habe vor einigen Wochen mit Ursula von der Leyen telefoniert – wir hatten einige verteidigungspolitische Themen zu klären. Trotzdem drehten sich die ersten fünf Minuten erstmal um den Nahwuchs (lacht). Ich bin auch froh, dass meine Frau und mein Sohn bei mir in Berlin sind, dadurch kann ich oft auch kurzfristig bei ihnen sein. Ansonsten rege ich mich tatsächlich weniger über Kleinigkeiten auf – es gibt einfach Wichtigeres im Leben! Und auch mein Blickwinkel auf die Welt hat sich etwas verändert. Ich stelle mir schon die Frage, wie es meinem Kind gehen wird, wenn es so alt ist wie ich heute. Wie wird die Weltpolitik sich gestalten, wie der Planet aussehen, mit welchen sozialen Fragen wird es konfrontiert sein? Wie gültig ist dann noch das Versprechen unserer sozialen Marktwirtschaft, dass es nicht drauf ankommt, wo man herkommt, sondern wo man hin möchte? Dieses Prinzip steht heute ja schon vor großen Herausforderungen.

Wie wichtig ist die Rolle Europas bei der Zukunftsgestaltung?

Tobias Lindner: Es liegen ein paar Herausforderungen vor uns: Zum einen muss wieder daran gearbeitet werden, dass die Stabilität in der EU nicht einfach als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird. Bei einer Reise nach Dänemark hat meine Frau im Sommer das erste Mal seit vielen Jahren wieder eine Grenzkontrolle innerhalb Europas erlebt und sie musste die Währung umtauschen. Erst durch solche Situationen wird uns wieder bewusst gemacht, was es bedeutet, in der EU zu leben. Leider ist uns vieles so selbstverständlich geworden, dass uns nicht bewusst ist, dass diese Freiheit, diese Stabilität bedroht sein könnte. Eine weitere wichtige Aufgabe ist es, die EU nicht mehr als Sündenbock zu missbrauchen. Das wurde in Großbritannien durch den Brexit ganz deutlich. Europa war dort plötzlich schuld an allem: Das Gesundheitssystem ist mangelhaft? Die EU ist schuld. Die Post funktioniert nicht? Die EU ist schuld. Das ist natürlich alles absoluter Nonsens, aber viele Leute haben das geglaubt. Wenn man von der EU spricht, darf man außerdem nicht nur an die Köpfe appellieren. Europa muss erfahrbar werden. Ein gutes Beispiel ist das Interrail-Programm, durch das man mit einem Ticket durch ganz Europa fahren können. Man muss es schaffen, so über Europa zu sprechen, dass es Emotionen auslöst und dass jedem bewusst wird, wie viele Vorteile uns die EU bringt. Wenn wir das nicht schaffen, droht die Gefahr, dass wir im nächsten Jahr nach der Wahl ein Europa-Parlament haben, in dem die Befürworter keine Mehrheit mehr haben! Es ist also enorm wichtig, den Bürgern klar zu machen: Bei der nächsten Europawahl geht es um sehr viel!