-Foto: Jan Steffen / GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel

Steckbrief: Prof. Dr. Mojib Latif

  • Wurde am 29. September 1954 in Hamburg geboren.
  • 1987: Promotion u. a. über das Wetterphänomen El Niño.
  • 1989: Habilitation für das Fach Ozeanographie.
  • Seit 2003: Professor am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel.
  • Seit 2012: Vorstandsmitglied des Deutschen Klima-Konsortiums e.V. (DKK).
  • Auszeichnungen u. a: Deutscher Umweltpreis 2015, Alfred-Wegener-Medaille der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft 2019
  • Buchveröffentlichungen u. a.: Heißzeit (Herder, 2020), Bringen wir das Klima aus dem Takt? (Fischer, 2007)

_________________________________________________________________

Herr Latif, gerade habe ich Sie noch in den Tagesthemen gesehen: Sie waren dabei, als vor ein paar Tagen im Emsland ein Werk für die Herstellung von E-Kerosin eröffnet wurde – also ein klimaneutraler Treibstoff für Flugzeuge. Können wir in Zukunft ohne schlechtes Gewissen um die Welt fliegen?

Mojib Latif: Nein, das werden wir trotz dieser Innovation nicht können. Die Herstellung dieses Kraftstoffs ist extrem energieaufwendig – und da wir in Zukunft ohnehin sehr viel erneuerbare Energie für viele andere Bereiche unseres Lebens brauchen werden, wäre es besser für den Planeten, wenn der Flugverkehr nicht mehr allzu stark wächst. Und zwar nicht nur im Hinblick auf das Klima, sondern auch wegen anderer Aspekte: Landschaften werden vermüllt oder zerstört, Städte sind überfüllt mit Touristen usw. Dennoch ist die Entstehung eines solchen Werks natürlich ein gutes Zeichen!

Sie arbeiten schon seit Jahrzehnten selbst als Klimaforscher – und entsprechend mit Menschen zusammen, die sich der Gefahr des CO2-Anstiegs in der Atmosphäre bewusst sind. Wie frustrierend ist es, dass dennoch politisch und gesellschaftlich so wenig passiert ist, in dieser Zeit?

Mojib Latif: Es ist zwar einerseits frustrierend, aber auf der anderen Seite gibt es keinen Anlass, deswegen die Flinte ins Korn zu werfen. Das Thema ist einfach viel zu wichtig. So langsam tut sich ja nun auch etwas. Sehr, sehr lange schien das Problem allerdings weit weg zu sein, denn CO2 sieht man nicht – obwohl wir heute schon einen so hohen Gehalt in der Luft haben, wie es ihn seit drei Millionen Jahren nicht mehr gegeben hat. Wenn man sich die Kurven dazu anschaut, sieht man, dass es schon immer Schwankungen gab. Aber mit Beginn der Industrialisierung ist der Wert quasi durch die Decke geschossen. Wenn wir das sehen könnten, hätten wir längst gehandelt. Aber unser Himmel färbt sich nicht hässlich braun deswegen. Ich bin mir sicher, das ist einer der Gründe, warum sich so lange fast nichts getan hat. 

Haben Sie den Eindruck, dem Thema „Klimakrise“ wurde im Wahlkampf genug Beachtung geschenkt?

Mojib Latif: Wenn man es mit dem Wahlkampf 2017 vergleicht, dann auf jeden Fall. Damals spielte das Thema ja überhaupt keine Rolle. Das hat sich jetzt geändert, die Parteiprogramme gehen darauf ein, im Wahlkampf wurde darüber diskutiert und bei den Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen wird das Klima sicher eine wichtige Rolle spielen. Dennoch ist die Politik immer noch viel zu zögerlich.

In welchen Punkten genau?

Mojib Latif: Ich denke da zum Beispiel an die vorhin angesprochene Einweihung des E-Kerosin-Werks: Die Entstehung des Werks wurde nicht durch die Politik gefördert. Eine kleine Nicht-Regierungs-Organisation hat es finanziert, ohne auch nur einen Euro öffentlicher Fördermittel. Das zeigt zum einen, dass die Politik zu zögerlich ist, und zum anderen, dass die Gesellschaft und die Wirtschaft schon viel weiter sind. 

Welche Erwartungen an die kommende Regierung haben Sie denn konkret?

Mojib Latif: Es geht jetzt ans Eingemachte. Auch wenn sie nur indirekt mit der Erderwärmung zusammenhängt, hat die Flut im Ahrtal deutlich gemacht, auf welchem Weg wir uns befinden. Deswegen hoffe ich, dass man bei den anstehenden Entscheidungen nicht zu sehr auf die Interessen vergleichsweise kleiner Gruppen hört. Der Kohleausstieg zeigt das ganz gut: Hier geht es um 20.000 Arbeitsplätze. Diesen Menschen könnte man sicher relativ einfach ein sehr gutes Leben ermöglichen – zumindest von der finanziellen Absicherung her. Man könnte den Ausstieg relativ einfach vorziehen. Aber sowohl die Union als auch die SPD halten an den bisherigen Plänen fest – und sind zudem bei der Umsetzung nicht ganz ehrlich: Sie haben den Kohlekompromiss nicht so umgesetzt, wie er besprochen war. In meinen Augen war das ein Foulspiel, worüber sich die Umweltverbände und Klimaforscher, die bei den Beratungen dazu mit am Tisch saßen, im Nachhinein auch lautstark beschwert haben. 

Was genau wurde denn falsch umgesetzt?

Mojib Latif: Der Zeitrahmen wird zwar eingehalten, aber die einzelnen Schritte zum Ausstieg sollen fast alle erst relativ zum Schluss passieren. Dadurch wird deutlich mehr CO2 ausgestoßen als angedacht war. Ähnlich war das beim Klimaschutzgesetz – und das war einer Gründe, warum das Bundesverfassungsgericht hier Nachbesserungen angeordnet hat. Ich hoffe, bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen wird auch beim Thema Kohle nochmal nachgebessert und ein Ausstieg 2030 beschlossen. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch sehen: Es geht nicht nur um die klimatische Zukunft, sondern auch um die ökonomische. Viele Menschen verbinden mit Klimaschutz vor allem Negatives. Dabei bedeutet er eigentlich Innovation. Klimaschutz schafft neue Jobs. 

Das ist ja auch oft ein Argument von Menschen, die den Klimaschutz lieber etwas langsamer angehen möchten: „Wir können es uns gar nicht leisten. Klimaschutz macht alles teurer.“ usw. Stimmt das denn?

Mojib Latif: Das stimmt ganz und gar nicht. Man kann das an zwei Beispielen sehr deutlich machen: Weltweit ist der CO2-Ausstoß seit 1990 um 60 Prozent gestiegen – was für ein Wahnsinn. In Deutschland ist er seitdem allerdings um 40 Prozent gesunken. Und wenn es einem Land in der Welt dennoch gut geht, dann ist das doch Deutschland. Die simple Gleichung – Klimaschutz gleich Wohlstandsverlust – geht nicht auf. Das zweite Beispiel hat mit den Subventionen zu tun: Es werden unheimlich viele Subventionen in nicht nachhaltige Produktion gesteckt. Das betrifft insbesondere die EU-Agrarsubventionen. Es wurde zwar in den vergangenen Jahren ein wenig nachgebessert, aber noch lange nicht genug. Es ist immer noch so, dass die allermeisten Gelder in die Industrielle Landwirtschaft fließen. Bei den Subventionen hat die Politik also große Steuerungsmöglichkeiten. Denn da geht es um sehr große Summen, die meiner Meinung nach völlig falsch eingesetzt werden. 

Das ist ja auch eine der zehn Forderungen, die Sie in Ihrem letzten Buch an die Politik stellen. Haben Sie das Gefühl, seit dem Erscheinen im Sommer 2020 ist schon etwas passiert? 

Mojib Latif: So schnell gehen politische Prozesse leider nicht. Man braucht einen langen Atem. Und jetzt kommt es darauf an, was in den Koalitionsverhandlungen besprochen wird. Gerade bei den Subventionen sehe ich gutes Kompromiss-Potential. Die FDP möchte keine Steuererhöhungen, die Grünen fordern Geld für nachhaltige Investitionen. Der Abbau klimaschädlicher Subventionen wäre eine Möglichkeit, an dieses Geld zu kommen. Das kann dann in Klimaschutz oder auch Bildung usw. fließen, denn auch dort gibt es eine Menge zu tun. Ich war vor der Pandemie sehr viel in Schulen unterwegs und mir kommen fast die Tränen, wenn ich daran denke, wie unsere Schulen aussehen.

„Heißzeit“ ist im Sommer 2020 beim Herder-Verlag erschienen. (Foto: honorarfrei)

In Debatten über Klimaschutz prallen auch oft zwei Grundeinstellungen aufeinander: Die einen fordern vor allem individuelle Verantwortung, die anderen sehen eher die Notwendigkeit, dass große Hebel bewegt werden. Was ist denn wichtiger: Dass ich persönlich mein Leben umstelle oder dass sich das System ändert?

Mojib Latif: Das System, ganz klar. Unser System belohnt umweltschädliches Verhalten. Ein Beispiel ist die Verlagerung von Produktion, dorthin, wo Umwelt- und Sozialstandards niedrig sind. Im Moment rentiert sich das für Firmen finanziell, so sollte es aber nicht funktionieren. Wir leben also im falschen System. Um das klarzustellen: Ich will natürlich weiterhin in einer Demokratie leben. Das ist auch einer meiner zehn Punkte. Denn ohne Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheitsrechte erreichen wir gar nichts. Aber wir müssen das System reformieren. Es gibt einige gute Ansätze. Einer davon ist der Europäische Emissionshandel. Den gibt es ja bereits, aber er wird als Instrument oft vergessen. Im Rahmen dieses Emissionshandels ist der CO2-Preis übrigens schon viel höher als aktuell in Deutschland, nämlich bei etwa 60 Euro. Bis vor wenigen Jahren dümpelte er bei unter 10 Euro – und hatte so auch keine Lenkungswirkung. Jetzt tut der Preis den beteiligten Unternehmen weh, vor allem den Energiekonzernen. Das ist ein Grund, warum sie nun von ganz alleine schon versuchen, ihre Kohlekraftwerke loszuwerden. Kohle ist nicht mehr rentabel. Ich weiß also nicht, wovor die Politik Angst hat, denn in diesem Fall würde der Markt das tatsächlich von ganz alleine regeln.

… und dennoch lassen einige Parteien nicht los beim Thema Kohle.

Mojib Latif: Richtig. Ich finde es gut, dass nun frischer – und vor allem junger –  Wind in die Sache kommt. Denn junge Menschen haben eine andere Sozialisierung. Kohle ist die Energieform der Vergangenheit, Sonne und Wind sind die Zukunft.

Allerdings ist ein Großteil der Wähler eben doch älter.

Mojib Latif: Das ist ein Problem. Die meisten wollen keine Veränderungen. Das erfahre ich selbst auch häufig in Gesprächen, auch in meinem Bekanntenkreis. Deswegen finde ich den Gedanken, das Wahlrecht ab 16 einzuführen, auch absolut richtig. Es kann ja nicht sein, dass die Alten über die Zukunft der Jungen entscheiden. 

Lassen Sie uns doch mal etwas konkreter werden: Was steht uns denn tatsächlich bevor in den nächsten Jahrzehnten?

Mojib Latif: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Eigentlich sind wir gerade Teil eines gigantischen Experiments. Wir dringen klimatisch gerade in Bereiche vor, die wir nicht kennen, es gibt für diese Entwicklung kein Beispiel, an dem wir uns orientieren können, denn die Geschwindigkeit, mit der die Temperaturen ansteigen, ist einmalig in der Geschichte der Menschheit. Natürlich gab es auch Phasen auf der Erde vor vielen Millionen von Jahren, wo es wärmer war, aber nicht während der letzten Jahrtausende, und nicht seit die Menschen auf diesem Planeten leben. Deswegen ist es schwer vorauszusagen, was genau passieren wird. Eins ist aber klar: Was wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben, wird sich fortsetzen: mehr Starkregen-Ereignisse, mehr Dürreperioden, neue Hitzerekorde. Die Schäden werden immer weiter zunehmen. Es gibt Grenzen der Vorhersagbarkeit – wir Wissenschaftler haben ja die Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen und deswegen sollten wir auch nicht so tun, als seien wir im Besitz aller Erkenntnisse. Es gibt aber ganz sicher auch Grenzen der Anpassungsfähigkeit. Das haben wir bei der Flut im Juli ganz deutlich gemerkt, aber auch im Hitze-Sommer 2018. Die Argumentation, man müsse sich den Veränderungen eben anpassen, funktioniert nicht mehr. Wie soll man sich denn an solche Extreme anpassen? An Temperaturen wie in Kanada, beinahe 50 Grad? Wir sind dabei, den klimatischen Wohlfühlbereich zu verlassen. Erst in diesem Jahr gab es riesige Waldbrände im Mittelmeerraum, vor knapp zwei Jahren in Australien – das haben wir alles schon wieder verdrängt, weil sich die Extremereignisse so sehr häufen. Und das alles ist auch ökonomisch eine Riesengefahr. Anfang 2020, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, war das Klima das dominierende Thema. Auch das haben wir mittlerweile wieder vergessen, denn dann kam Corona. Aber auch die Wirtschaft merkt, dass es so nicht weitergehen kann. Das gibt mir die Hoffnung, dass nun doch in allen Bereichen der Gesellschaft ein Umdenken einsetzt und der weltweite Klimaschutz an Fahrt aufnimmt – denn nur der zählt am Ende. Der Ort des Ausstoßes von Treibhausgasen ist irrelevant. 

Dennoch gibt es immer noch sehr viele Skeptiker, die sagen, wir hätten als Menschheit eh keine Chance. Es gäbe viel zu viele von uns, wir bekämen eh nicht alle unter einen Hut usw. Warum sollten wir uns also anstrengen, wenn es am Ende eh nichts bringe? Wie reagieren Sie darauf?

Mojib Latif: Natürlich ist das Bevölkerungswachstum ein großes Problem. Es ist aber leicht zu lösen: durch Wohlstand für alle. Man muss sich ja nur unser eigenes Land anschauen, hier schrumpft die Bevölkerung eher. Das ist also der Schlüssel. Wir brauchen einen fairen Handel zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, dann klappt das auch. Gerade der globale Süden hat unheimlich viele Möglichkeiten im Hinblick auf Klimaschutz. In Deutschland gibt es vergleichsweise wenig Potential für erneuerbare Energien. Das sieht in Wüsten ganz anders aus. In küstennahen Wüsten beispielsweise kann viel einfacher E-Kerosin hergestellt werden. Mit solchen Technologien bietet man diesen Ländern eine Wohlstandsperspektive, die wiederum auch zur Demokratisierung beiträgt. 

Die Vision, die man im Sinne des Klimaschutzes hat, ist also eigentlich eine sehr positive und gar nicht von Verzicht und Einschränkungen geprägt?

Mojib Latif: Absolut! Das machen wir im öffentlichen Diskurs viel zu wenig klar. Ich kann mir die Talkshows nur noch schwer anschauen, es schaudert mich. Immer wird die Frage gestellt, worauf wir in Zukunft alles verzichten müssen und die Zukunft wird in erster Linie negativ dargestellt. Dabei könnten wir solch ein tolles, neues Weltbild entwerfen.