Schon in den 60er Jahren sammelte Wolfgang Niedecken erste Erfahrungen als Musiker in diversen Schülerbands – 1976 gründete er dann die Band, mit der er heute noch unterwegs ist und große Erfolge feiert: BAP. Markus Eisel traf den Kölner zum Interview.

Aufgrund der aktuellen politischen Situation in Kandel und darüber hinaus, kann man sagen, dass das Lied „Kristallnaach“ immer noch aktuell ist?

Wolfgang Niedecken: Leider. Ich hatte gehofft, es würde irgendwann mal überflüssig werden. Das Lied ist ja schon wirklich alt – es wurde 1981 geschrieben und erst acht Jahre später ist die Mauer gefallen. Nach der Wende hat man große Hoffnung gehabt. Man dachte, man hätte den kalten Krieg hinter sich und dass es nun nur noch bergauf geht. Doch irgendwann hat man dann festgestellt, dass sich die Probleme nur wandeln. So schnell geht das eben nicht, „ein“ Volk zu werden.

Ist es wahrscheinlich heute noch nicht.

Wolfgang Niedecken: Nein und dann kommen heute noch die Probleme der Globalisierung und der Digitalisierung dazu. Wenn sich Leute überflüssig fühlen, verschaffen sie sich oft Gehör über soziale Medien. Letztendlich werden Demagogen diese Themen auch immer wieder befeuern oder über diesen Weg ihre Zielgruppe immer wieder aufs Neue angehen. Und die Verrohung macht das Ganze noch schlimmer. Das beste Beispiel für die Verrohung sind für mich die Sitten, die mittlerweile in den USA, seit der Präsidentschaft von Donald Trump, an den Tag gelegt werden. Sowas hätte man sich vorher niemals vorstellen können. Unfassbar, wie dort Lügen, Brutalität, Zynismus zuschlagen. Damit haben wir jetzt täglich zu tun, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen.

Wie wird man dem Ganzen noch Herr? Das ist ja ein unaufhaltsamer Prozess.

Wolfgang Niedecken: Indem man zunächst versucht, Ruhe zu bewahren. Sich argumentativ zu verhalten. Und dringend erforderlich ist auch, dass die Demokraten zusammenrücken. Es nützt nichts, wenn wir uns auch noch zersplittern. Als Demokrat muss man diesen Dingen entgegentreten, dieser Verrohung, diesem Populismus. Ich hoffe, dass das auch irgendwann einmal begriffen wird, bevor es zu spät ist.

Wäre es nicht auch einmal wieder an der Zeit, ein Zeichen zu setzen?

Wolfgang Niedecken: Sie meinen so etwas wie  „Arsch huh, Zäng ussenander“? Das war 1992. Seit dieser Zeit hat sich die Welt immer wieder komplett verändert. Anfang der 80er war die große Zeit der Friedensbewegung. Diese Zeiten unterschieden sich auch schon von den 90ern. Zu dieser Zeit war es dringend notwendig, solche Veranstaltungen zu machen. In Köln gab es „Arsch huh, Zäng ussenander“, in Frankfurt kam „Heute die! Morgen du!“ und dann wurde uns klar, dass wir solch eine Veranstaltung auch noch in den neuen Bundesländern machen müssen. So entstand in Leipzig „Gewalt ätzt“. Das waren Veranstaltungen, da musste man die Leute nicht überreden, zu kommen. Die Leute waren alle froh, dass sie an einer Stelle zusammen kommen und ihr Entsetzen zum Ausdruck bringen konnten. Wenn man so etwas heute machen würde, müsste man Aufrufe machen bis zum Abwinken, weil die Leute mittlerweile anders drauf sind. Vor allen Dingen müsste man die Künstler der heutigen Zeit anpassen. Vor dreißig Jahren waren wir auch noch dreißig Jahre jünger. Weißt du, was ich meine? (lacht) Ich weiß nicht, welche Botschaft da rüberkommt, wenn immer die gleichen alten Verdächtigen auf der Bühne stehen. Ich weiß nicht, ob das Sinn machen würde. Man sollte sich in jedem Fall bewusst machen, dass in der Welt etwas Unvergleichbares vor sich geht. Ich lese Bücher bis zum Abwinken darüber, um einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Ich glaube, das Allerwichtigste ist, uns wieder mehr der europäischen Idee zu widmen und auch dazu zu stehen.

Entscheidend ist doch auch, dass die EU der größte Friedensbringer ist.

Wolfgang Niedecken: Die EU ist genaugenommen die eigentliche Friedensbewegung.

Aber die Politik schafft es nicht, dies auch so herüberzubringen.

Wolfgang Niedecken: Es gehen zu viele Politiker auf Distanz. Es wird gerne über Europa geschimpft – übrigens auch eine Art von Populismus. Natürlich wird in Europa auch jede Menge Bürokratie betrieben, wo ich mich selbst frage „Muss das mit dem Idealmaß für Gurken denn wirklich sein?“. Auf der anderen Seite: Großbritannien tritt aus und wenn wir bis zur nächsten Wahl in Frankreich und Deutschland nicht wenigstens das Europa der zwei Geschwindigkeiten auf die Reihe bekommen, wird in Frankreich Marine Le Pen gewinnen und in Deutschland wird es die AfD sein. Und spätestens dann, kannst du Europa vergessen. Und dann geht es auch mit rapiden Schritten wieder zurück in die Vergangenheit – in eine ganz finstere Vergangenheit.

Ich habe mir vor Kurzem eine Dokumentation über die Weimarer Republik und den Übergang zum Dritten Reich angeschaut. Kleine Parallelen sind schon erkennbar.

Wolfgang Niedecken: Als ich Malerei studiert habe, hat der Professor für Kunstgeschichte gesagt, dass sich in der Geschichte alles wiederholt, allerdings wie auf einer Wendeltreppe, immer auf einer anderen Ebene. Das war ein wunderbarer Satz, den ich nie vergessen habe. Deswegen muss man aufpassen. Man kann aus der Geschichte lernen. Noch vor zehn Jahren haben die Medien komplett anders funktioniert. Ein gutes Beispiel dafür ist Trump. Er schickt ungehindert seine Tweets nach außen. Und bevor man die Fakten checken kann, kommt schon wieder die nächste Lüge hinterher.

Sie waren für mich immer das Gesicht einer Friedensbewegung. Zu dieser Zeit galten Sie auch als Revoluzzer. Steckt von diesem Revoluzzer noch etwas in Ihnen oder ist der milder geworden?

Wolfgang Niedecken: Nein, der ist immer noch da und noch nicht mal milder. Ich habe nur eine Menge Erfahrungen gemacht und Sachen, die ich mittlerweile als gut gemeint, aber wenig effektiv erkenne, muss ich nicht tausend Mal wiederholen, nur um diesem alten Image zu entsprechen. In „Verdammt lang her“ habe ich damals schon gesungen „Nit resigniert, nur reichlich desillusioniert“, das hat sich eigentlich fortgesetzt. Diesen Prozess der Desillusionierung kann man natürlich bei verschiedensten Themen bei sich selbst beobachten. Dann ertappt man sich dabei, wie man überlegt, ob man die Sache angeht oder manches besser sein lässt.

Eine etwas provokante Frage: Was würde der Niedecken von 1981 zu dem Niedecken von heute sagen?

Wolfgang Niedecken: Der würde staunen. Vor allen Dingen hätte der 1980 überhaupt nicht für möglich gehalten, dass diese ganze Geschichte mit BAP bis 1982 oder 1983 dauern würde. Schmal und ich haben damals gesagt „Ist doch egal, womit wir kein Geld verdienen“, wir wollten ein bisschen Musik machen, solange es funktioniert, und danach wieder in unser gewohntes Leben als Maler zurückkehren. Wir hätten das niemals für möglich gehalten. Ich kann mich an einen Moment in einem Flugzeug erinnern, das war 1984, da bin ich in die Schweiz geflogen, um das Salzgebäck-Album zu promoten. Ich habe nach unten auf die Wolken geschaut und gedacht „Irre, das ist ja immer noch nicht vorbei, wie lange mag das noch gut gehen“ (lacht). Da denke ich immer wieder dran, weil ich das wirklich nicht für möglich gehalten hätte. Aber vielleicht ist Ihre Frage auch ganz anders gemeint und es geht eher darum, was ich heute für einer bin.

Das auch. Beide Seiten interessieren mich.

Wolfgang Niedecken: Ich bin heute sehr glücklich, dass ich der sein darf, der ich bin. Ich unterscheide mich gar nicht so furchtbar von dem Kerl von 1980, bloß, 1980 war ich 29 Jahre, heute bin 67 Jahre. Ich habe Söhne, die sind älter als ich damals. Ich denke auch nicht an einem Stück darüber nach, wie alt ich bin. Aber ich denke sehr viel über meine Verantwortung nach. Ich habe vier Kinder, eine Familie, ich habe einen Laden, der ohne mich nicht funktioniert. Also diese Verantwortung spüre ich schon.

Sie sind doch der Laden.

Wolfgang Niedecken: Da sind schon noch einige andere Menschen daran beteiligt. Die stehen eben nur mehr im Hintergrund. Ich bin vielleicht die Gallionsfigur und ich sage, wo es künstlerisch lang geht. Meine Frau macht mittlerweile viel Organisatorisches, denn die Kinder sind jetzt aus dem Haus. Warum in aller Welt soll ich noch mit einem Promoter herumrennen, wenn Tina sowieso über alles Bescheid weiß, was ich mache und immer dabei ist. Dann kann man das auch wunderbar zusammen machen. Wir haben auch noch zwei Damen im Büro, die den ganzen Zahlen- und Papierkram regeln. Und wir haben eine Konzertagentur die alles organisiert, wenn wir auf Tour gehen wollen. Je nachdem brauchen wir dann noch einen Radiopromoter, der die Kontakte zu den Radios hat. Den holt man sich dann aber spontan dazu und dann guckt man halt, dass man die Band frühzeitig informiert, wann man vorhat, so etwas zu machen.

Aber die Band als solches gibt es doch heute nicht mehr, oder?

Wolfgang Niedecken: Doch, die gibt es noch. Dass ich das wieder „Niedeckens BAP“ genannt habe, hat ausschließlich was mit Planungssicherheit zu tun.

Wolfgang Niedecken und Markus Eisel. (Foto: privat)

Was ist der Unterschied von BAP und Niedecken?

Wolfgang Niedecken: Es gibt keinen. Außer wenn ich Solo-Gigs spiele oder mit der WDR Big Band unterwegs bin. Es kann passieren, dass ich auf Tour gehen möchte und jemand aus der Band etwas anderes vor hat. Und dann versucht man das irgendwie hinzubekommen und wenn es dann gar nicht geht, kann mir keiner einen Vorwurf machen, wenn es nicht die gleiche Besetzung wie bei der letzten Tour ist. Ich brauche sowas bestimmt nicht aus Ego-Gründen. Ich finde es nicht gut, wenn auf dem Plakat „Niedeckens BAP“ steht, aber es heißt jetzt so und wo es irgendwie geht, lass ich den „Niedecken“ sogar weg.

Aber wenn jetzt zum Beispiel die Tour stattfindet, dann kommt ja auch eine neue Platte raus.

Wolfgang Niedecken: Meine neue Solo-Platte nehmen wir als Aufhänger. Ich weiß nicht, ob Sie die Tour mitbekommen haben „BAP zieht den Stecker“. Diese Tour kam nur zustande, weil ich vorher in Amerika mit amerikanischen Musikern das Album „Zosamme alt“ unplugged aufgenommen habe. Als dieses Album fertig war, dachten wir uns, dass wir in dieser Art endlich mal unsere unplugged Tour spielen könnten, die wir immer wieder verschoben hatten. Sobald wir vorhatten, eine unplugged Tour zu machen, kam immer der Gedanke, dass wir doch lieber wieder rocken wollen. Und dann haben wir mit dem oben genannten Album die Chance erkannt und haben es endlich gemacht. Wir haben uns diese Versionen als Vorlage genommen und die übrigen Songs auch in diese Richtung entwickelt. Somit haben wir ein sehr schönes Live-Unplugged-Album herausgebracht, über das wir alle sehr glücklich sind.

Wobei „Reinrassije Strooßekööter“ ein Soloalbum von Ihnen war?

Wolfgang Niedecken: Ja, auch das ist ein Soloalbum, wobei auch hier war eigentlich eine Band am Start. Ich habe mit Julian Dawson die Songs ausgewählt und er hat das Album produziert.

Nun gehen Sie auch immer wieder auf Tour. Solch eine Tour ist ziemlich lang.

Wolfgang Niedecken: Es geht so. Nicht so lange wie die vorherige, die hatte 70 Termine.

Aber Sie sind schon noch der Typ Musiker, der das Livespielen liebt?

Wolfgang Niedecken: Ich lebe auf das Livespielen hin. Es gab früher mal eine Zeit, in der ich überhaupt keine Lust hatte, ins Studio zu gehen, weil das für mich zu sehr fremdbestimmt war. Damals gab es auch immer Fingerhakeleien im Studio. Nach einer gewissen Zeit hat sich das dann aber geändert. Unser damaliger Gitarrist Klaus „Major“ Heuser wollte in eine komplett andere Richtung als ich. Er wollte in eine eher kommerzielle Richtung, wollte sogar, dass ich englisch singe, Radio-Pop. Das ging einfach nicht mehr. Obwohl das zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich kommerziell erfolgreicher gewesen wäre. Nichtsdestotrotz – er hat uns zum Rocken gebracht. Vorher waren wir eine wildgewordene Liedermachertruppe. Wenn man sich heute das erste Album anhört – das war zwar alles super, aber wir waren einfach keine Musiker. Wir waren Studenten, die in den 60ern mal gespielt hatten.

Sie haben früher auch in Kneipen in Köln gespielt. Ihre Bodenständigkeit spürt man heute noch.

Wolfgang Niedecken: Das wird sich auch mein Leben lang nicht ändern. An der Stelle kann ich unheimlich stur sein. Bei mir ist noch kein Karriereberater erfolgreich gewesen (lacht). So etwas brauche ich nicht.

Aber im Laufe der letzten 40 Jahre ist doch relativ viel passiert. Wie schafft man es, sich immer wieder neu zu erfinden?

Wolfgang Niedecken: Es wird natürlich immer schwerer, etwas Neues zu schreiben, ohne sich zu wiederholen. Aber das ist auch in Ordnung, denn die Intervalle, wo neue Studioplatten erscheinen, werden länger. Und das ist auch nicht schlimm, weil die meisten Leute sowieso die Lieder aus ihrer Jugend hören wollen, mit denen sie etwas verbinden, die ihnen autobiographisch wichtig sind. Im Gegenteil:  Wenn wir ein neues BAP-Album herausbringen, dann sind wir glücklich, wenn wir es im Laufe der Tour schaffen, ungefähr die Hälfte des neuen Albums tatsächlich auch auf der Bühne spielen zu können. Das muss man schon geschickt machen. Wir wollen den Leuten ja auch nichts aufdrängen. Das wäre mir peinlich.

Verändert sich während einer Tour eigentlich der Programmablauf?

Wolfgang Niedecken: Manchmal schon. Während der Probe verschiebt sich noch viel, aber das Repertoire wird vor der Tour bestimmt. Wenn ein BAP-Konzert um die dreißig Lieder hat und man sich dazu entscheidet, eine alte Nummer zu spielen, dann kann dafür eine neue Nummer halt nicht gespielt werden. Und außerdem sind die Stücke ja auch immer einem Genre zuzuordnen. Du kannst beispielsweise nicht während des gleichen Konzerts „Kristallnaach“, „Bahnhofskino“ und „Nie met Aljebra“ spielen. Von der Sorte kann man, wenn es hoch kommt, zwei Stück spielen. Sonst wird es zu depressiv. Die Dramaturgie eines Auftritts zu entwerfen, macht mir großen Spaß. Bevor die Tour losgeht, habe ich meine Zettel und schiebe sie hin und her – manchmal komme ich mir vor wie Jogi Löw mit einem Überangebot an guten Stürmern (lacht). Während der Proben merkt man dann, ob das geplante Programm einen Bogen hat oder nicht.

Trifft man solche Entscheidungen zusammen?

Wolfgang Niedecken: Ich schlage vor und dann kommt der Diskussionsprozess. Ich höre alle Meinungen und treffe letztlich die Entscheidung. Aber ich bin nicht beratungsresistent. Überhaupt nicht. Wenn mir ein Argument einleuchtet, bin ich froh, dass mich jemand darauf aufmerksam gemacht hat.

Und jetzt kommt auch noch „Mann tv“ dazu.

Wolfgang Niedecken: Ja, das war aber nur eine einzige Sendung. Es war super. Würde ich glatt noch einmal machen. Das hat mir einen riesengroßen Spaß gemacht. Das Sendeformat wechselt sich ab. Eigentlich heißt es „Frau tv“ und ab und an gibt es dann eine Sondersendung mit „Mann tv“, bei der sich abwechselnd jemand anderes zum Affen macht. Das ist eine Frage des Humors. Es gibt bestimmt Leute, die sich fragen, was das Ganze soll. Aber ich habe wahnsinnig viel gelacht! (eis)