Mit welchen Gefühlen blicken Sie persönlich auf die nächsten ein, zwei Wochen?

Elmar Theveßen: Ich bin gespannt und beunruhigt zugleich im Hinblick auf das, was passieren könnte – wenn es beispielsweise zu einem unklaren Wahlergebnis kommt. Insofern ist es ganz gut, dass wir hier so viel zu tun haben – das lenkt ab und es bleibt nicht viel Zeit zum Grübeln.

Sie waren in den vergangenen Monaten in den USA unterwegs und haben mit vielen unterschiedlichen Menschen gesprochen: Was sind die wichtigsten Beobachtungen, die Sie gemacht haben?

Elmar Theveßen: Die wichtigste Erkenntnis, die wir aus den Gesprächen mitgenommen haben, ist, dass im ganzen Land eine große Sehnsucht nach Einigkeit und Versöhnung herrscht. Viele Menschen sind allerdings desillusioniert, weil sie das Gefühl haben, die gesellschaftlichen Gräben seien kaum noch zu überwinden. Das Misstrauen gegenüber dem anderen politischen Lager ist sehr hoch, weshalb sich kaum einer traut, den ersten Schritt zu machen und den Austausch mit dem gegnerischen Lager zu suchen. Auf unserer Reise durch das Land haben wir in den Gesprächen aber auch festgestellt, dass ein Aufeinanderzukommen durchaus möglich wäre, wenn nur jemand diesen ersten Schritt wagen würde! Das ist aus meiner Sicht ein gutes Zeichen, man darf Hoffnung für die Zukunft haben.

Sie haben auch schon Ende der 90er einige Jahre in den USA verbracht. Gab es damals auch schon solche Spannungen oder hat sich die gesellschaftliche Spaltung besonders in den vergangenen Jahren so sehr zugespitzt?

Elmar Theveßen: Ich habe auch damals schon Polarisierung erlebt. Aber nicht im gleichen Ausmaß wie jetzt. Die Gräben sind aktuell so tief, dass kaum noch konstruktive Kommunikation möglich ist. Das ist beängstigend, denn die Demokratie lebt ja davon, dass man miteinander spricht, um Kompromisse und Lösungen zu finden. Genau diese Art von Austausch steht hier in den USA aber mehr denn je auf dem Spiel – und zwar deshalb, weil hier seit vier Jahren ein Präsident im Amt ist, der Öl ins Feuer gießt. Trump sorgt dafür, dass die Spaltung immer größer wird. Die große Hoffnung liegt also auf der Wahl jetzt – sie ist eine Schicksalswahl, bei der sich die Nation entscheiden muss, ob sie weiter den Weg der Spaltung geht oder ob sie wieder zusammenfindet.

Unterwegs für die Dokumentation „American Voices“: An der Mauer in El Paso in Texas trifft ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen mexikanische Kinder. (Foto: ZDF/Annette Brieger)

Könnte ein Präsident Biden es denn schaffen, die Gräben zu überwinden?

Elmar Theveßen: Ich glaube, er hätte das Zeug dazu, ja. Er hat in den vergangenen Jahrzehnten oft bewiesen, dass er Menschen aus verschiedenen Lagern zusammenbringen kann. Natürlich hat auch er Fehler gemacht, aber er ist immer allen Menschen mit Anstand und Respekt begegnet – das ist der entscheidende Unterschied zu Donald Trump und eine wichtige Grundlage, um die Gesellschaft wieder zu versöhnen. Wie gut ihm das letztendlich wirklich gelingen kann, ist schwer einzuschätzen. Wenn Joe Biden die Wahl gewinnt, bleiben sehr viele enttäuschte Trump-Anhänger zurück – und es ist nicht auszuschließen, dass es zu Ausschreitungen kommt. Das könnte die Situation also erstmal noch deutlich verschärfen – bevor es langfristig dann hoffentlich zu einer Verbesserung käme.

Was sind denn genau die Stärken von Joe Biden?

Elmar Theveßen: Neben seinem bereits genannten respektvollen Umgang mit Menschen, ist das sicherlich die Tatsache, dass er Pläne hat. Er hat – gemeinsam mit seiner Kandidatin für die Vizepräsidentschaft Kamala Harris – Visionen für das Land erarbeitet. Und dazu gibt es auch relativ konkrete, schriftlich festgehaltene Pläne, beispielsweise für die Themen Sicherheit, Umweltschutz, Außenpolitik, Wirtschaft usw. Das sind natürlich zunächst nur Vorschläge, die dann auch Mehrheiten im Kongress bräuchten – aber allein dass er solche ausgearbeiteten Pläne hat, unterscheidet ihn schon grundsätzlich vom amtierenden Präsidenten. Trump konnte in den letzten Wochen bei keinem seiner Fernsehauftritte die Frage nach konkreten Zielen für die nächsten vier Jahre beantworten.

Aus unserer Perspektive ist das kaum vorstellbar, dass ein Politiker ohne Pläne antritt und trotzdem so erfolgreich ist. Woran liegt das, dass Trump schon so lange mit dieser Taktik „durchkommt“?

Elmar Theveßen: Die Enttäuschung über die Politik sowohl von den Demokraten als auch von den Republikanern in den Jahren vor Trump war in den USA sehr groß. Die Menschen haben kaum noch irgendetwas erwartet, denn vieles von dem, was in Washington entschieden wird, hat kaum Einfluss auf das Leben der US-Bürger. Aber sie spüren natürlich die Auswirkungen der gesamtwirtschaftlichen Lage, denn davon hängen ihre Jobs und ihr Verdienst ab. Das ist genau der Bereich, wo sich besonders viel Frust angestaut hat, denn die Schere zwischen arm und reich ist in den letzten Jahrzehnten immer größer geworden. Zu dieser Entwicklung haben beide politischen Parteien beigetragen. Und das war die Grundlage für Trumps Wahlsieg vor vier Jahren. Den Menschen damals hat sein Versprechen, er werde sich um sie kümmern, gereicht. Sie haben ihm geglaubt. Und auch wenn er in den letzten vier Jahren kaum etwas für diese Menschen bewirkt hat, haben viele immer noch das Gefühl, er sei um sie besorgt. Der einzige Grund, warum Donald Trump noch nicht mehr für sie getan habe, sei die Blockade der Demokraten – so glauben sie. Das ist natürlich eine Fehlwahrnehmung, aber einige glauben eben immer noch daran und ihre feste Hoffnung ist es, dass er in einer zweiten Amtszeit dann auch in der Lage wäre, seine Versprechen einzulösen.

Trump hat ja schon mehrfach angedeutet, dass er im Falle einer Niederlage das Amt nicht freiwillig hergeben wird. Halten Sie das für möglich? Welches Szenario können Sie sich vorstellen?

Elmar Theveßen: Es ist absolut vorstellbar, dass dieser Fall eintreten wird. Donald Trump wurde ja auch schon mehrfach von Experten psychisch analysiert, unter anderem vom ehemaligen Chef-Profiler der CIA, der ein Buch über den Präsidenten (Anm. der Red.: Jarrold M. Post – „Dangerous Charisma“) geschrieben hat. Er kam in seiner Analyse zu dem Schluss: Dieser Mann ist ein bösartiger Narzisst, der ständig nach Anerkennung sucht und Niederlagen nicht akzeptieren kann. Wenn es also knapp wird und es umstrittene Ergebnisse in einzelnen Bundesstaaten gibt, ist es durchaus wahrscheinlich, dass Trump den Sieg für sich proklamieren wird – ohne die Auszählung der Briefwahlstimmen abzuwarten. Das würde direkt zu einer Verfassungs- und Staatskrise führen, denn der Streit über den Wahlausgang würde nicht nur in Gerichten, sondern auch auf der Straße ausgetragen werden. Wenn Trump allerdings eine krachende Niederlage erleidet, mit deutlichem Rückstand also, gibt es eine realistische Chance, dass er das Feld freiwillig räumen würde, auch wenn er sicher weiterhin behaupten würde, der eigentliche Gewinner zu sein.

Donald Trump nimmt jede Gelegenheit wahr, um sich vor Kameras zu äußern. (Foto: ZDF/Win McNamee)

Die Umfragen scheinen recht eindeutig für Biden zu sprechen – halten Sie wie vor vier Jahren eine Überraschung trotzdem für möglich?

Elmar Theveßen: Es ist möglich, aber ich halte es für recht unwahrscheinlich. 2016 lag Hillary Clinton vier oder fünf Prozentpunkte vorne und hat in absoluten Zahlen auch die Mehrheit der Stimmen gewonnen. Das ist aber eine der Lehren, die man aus der letzten Wahl damals gezogen hat: Diese Mehrheit ist nichts wert, wenn man nicht die entscheidenden Bundesstaaten für sich gewinnen kann. Laut aktuellen Umfragen liegt allerdings Joe Biden deutlich zweistellig vorne – teils auch in den Staaten, in denen es traditionell eng wird.

Wie hat sich Ihre Arbeit als Pressevertreter in den letzten Jahren unter Trump denn verändert?

Elmar Theveßen: Trumps Art, mit der Presse umzugehen, hat Vor- und Nachteile. Wir wissen so gut wie nie zuvor, was der Präsident denkt und welche Haltung er hat, weil er seine Meinung regelmäßig ungefiltert über Twitter verbreitet und seine Statements vor jeder Kamera, die ihm begegnet, loswird. Frühere Präsidenten waren deutlich zurückhaltender und man musste lange auf deren Aussagen warten. Im Nachhinein war das ein Segen! (lacht). Was wir in den letzten Jahren aber auch zu spüren bekommen haben, ist der schwindende Respekt gegenüber den Medien. Man muss hier fairerweise sagen, dass einige Medienanstalten hier auch selbst dazu beigetragen haben – und zwar nicht nur Fox News, sondern auch CNN und MSNBC. Den Menschen fällt es immer schwerer, zwischen neutraler Berichterstattung und Meinungsbeiträgen zu unterscheiden. Das Resultat ist eine Abneigung gegenüber fast allen Medien, die auch wir zu spüren bekommen, wenn wir im Land unterwegs sind. Wir haben aber auch festgestellt, dass alle Menschen trotz dieser Vorbehalte bereit waren, mit uns zu reden. Es fehlte nicht an Offenheit!

Das Wahlsystem in den USA wird hier immer wieder kritisiert. Ist das auch vor Ort ein Thema?

Elmar Theveßen: Vor allem in der demokratischen Partei gibt es Überlegungen, wie man dieses System ändern kann. Und selbst bei den Republikanern gibt es einige, die nicht nur den Druck, sondern auch die Pflicht verspüren, eine Veränderung anzustoßen. Allerdings gibt es ein großes Problem: Die Republikaner befürchten, dass eine Reform es ihnen beinahe unmöglich machen könnte, in Zukunft noch Präsidenten zu stellen. Es wird also in naher Zukunft kaum eine Mehrheit geben, die dieses – ich muss es so deutlich sagen – grandios undemokratische System der Wahlmänner abschaffen könnte. Sogar noch undemokratischer ist die Zusammensetzung des Senats. Laut Hochrechnungen werden in wenigen Jahrzehnten die Hälfte aller US-Bürger in nur noch acht Bundesstaaten leben. Das würde bedeuten, dass nur 16 Senatoren diese Hälfte der Bevölkerung repräsentieren würden, die andere Hälfte hätte 84 Vertreter im Senat –ein unfassbares Ungleichgewicht. Das müsste also alles dringend reformiert werden, aber die Chancen dafür stehen leider nicht gut.

Corona – in Europa steigen die Zahlen dramatisch, in den USA geht die Kurve auch wieder steil nach oben. Wie beurteilen Sie die Lage?

Elmar Theveßen: Es ist beängstigend. Die Zahl der täglichen Todesfälle liegt aktuell im Schnitt wieder bei fast 1.000. Besonders betroffen sind Staaten im Mittleren Westen und im Süden der USA – also in den Staaten, die meist republikanisch regiert werden. Es sind ideologische Streits ums Masken-Tragen und die Eindämmungsmaßnahmen entbrannt und es zeichnet sich ab, dass sich die Lage dort, wo kaum Maßnahmen umgesetzt werden, besonders dramatisch verschlimmert.

Wie beurteilen die Menschen denn das Krisenmanagement der Regierung?

Elmar Theveßen: Wir haben sehr gespaltenes Feedback dazu bekommen. Die Trump-Anhänger haben sich vor allem empört gezeigt über die massiven Eingriffe in die Wirtschaft und haben ihre Verluste dadurch beklagt. Die anderen haben genau die gegenteilige Meinung und beklagen, dass durch zu lasche Maßnahmen, viel zu viele Menschenleben gefährdet werden und prangern auch den Präsidenten als schlechtes Vorbild an. Selbst unter denen, die vor vier Jahren noch Trump gewählt haben, gibt es inzwischen einige, die ihn nun genau wegen seines schlechten Krisenmanagements nicht mehr wählen werden. Insgesamt muss man klar sagen: Das Bild, das Trump gerne von der Pandemie zeichnet – sie sei bald vorbei und eigentlich harmlos – entspricht nicht der Lebenswirklichkeit der Menschen. Deswegen glaube ich, dass die Coronapandemie und deren Folgen das entscheidende Thema dieser Wahl sein wird. Daran kann der Präsident nichts ändern und das wird sehr wahrscheinlich zu einer deutlichen Niederlage für Trump beitragen.

Als Berichterstatter müssen Sie neutral bleiben. Ich kann mir vorstellen, dass das mit einem Präsidenten wie Trump nicht ganz einfach ist. Wie gehen Sie damit um?

Elmar Theveßen: Das ist eine ganz wichtige Frage, auch unter uns Journalisten hier in den USA. Wenn wir alle den Präsidenten darstellen, als sei er ein rein rational handelnder Mensch, würden wir aber ein falsches Bild zeichnen. Wir können nicht aus seinen Wahlkampfauftritten nur die Ausschnitte verwenden, in denen er ein paar vernünftige Sätze sagt und die restlichen 80 Prozent, wo er sich irrational oder respektlos äußert, einfach weglassen. Wenn er lügt, müssen wir es als Lüge benennen! Wenn er menschenverachtende Äußerungen tätigt, müssen wir das auch so kennzeichnen. Menschenverachtung oder Respektlosigkeit sind ja keine Kriterien, die wir uns als Journalisten ausdenken, sondern Grundwerte unserer Gesellschaft. Wir sollten den Präsidenten dabei aber natürlich nicht ins Lächerliche ziehen oder beschimpfen. Unsere Aufgabe ist es, seine Aussagen zu überprüfen und einzuordnen. Wir sind aber nicht dazu da, kosmetisch zu arbeiten und den Präsidenten schön zu schminken! (lacht)

Emar Theveßen befürchtet, dass es zu Ausschreitungen kommen könnte nach einem knappen Wahlausgang kommenden Dienstag. (Foto: ZDF/Rico Rossival)