Jockgrim. Aktuell erleben wir eine Welle der Solidarität mit Flüchtenden aus der Ukraine. Sie sollen möglichst schnell integriert werden und Zugang zu Bildung sowie zum Arbeitsmarkt erhalten. Das ist gut und wichtig. Es ist ein aber anderes Vorgehen, wenn nicht gar eine neue Offenheit, die zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise (2015/2016) so nicht oder nur selten beobachtbar war. Die damals Ankommenden mussten hohe Hürden überwinden, um gesellschaftliche Integration zu erreichen. Das PFALZ-ECHO hat mit zwei jungen Männern gesprochen, die vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen sind.

2015 entschlossen sich die Zwillinge, die Flucht nach Deutschland anzutreten. (Foto: Pixabay)

„Jetzt bin ich wirklich frei.“

Die syrischen Zwillinge Obada und Sohaib kamen am 28. Dezember 2015 im Alter von 18 Jahren in Deutschland an. Sie hatten die Reise alleine ohne Eltern angetreten. Obada erinnert sich: „Ich weiß es noch genau, ich saß im Bus und an der syrisch-libanesischen Grenze wurden alle Pässe eingesammelt und von den Beamten für eine Kontrolle mitgenommen. Ich habe so gezittert und es war eine unglaubliche Erleichterung, als alle Papiere wieder da waren. Da habe ich nur noch gedacht: Jetzt bin ich wirklich frei.“ Er war schon früh politisch engagiert, hatte 2011 und 2012 auch an friedlichen Demonstrationen in Syrien teilgenommen und lange, gemeinsam mit seiner Familie überlegt, ob eine Flucht die Lösung sei. Der Vater schätzte die Lage lange nicht so negativ ein, wie sie sich schlussendlich entwickelte. Er wollte zunächst nicht erlauben, dass sie gehen, wenngleich er selbst bereits im Jahr 2013 von einer islamistischen Gruppe (Dscheisch al-Islam) entführt und erpresst worden war. Damals konnte er sich freikaufen.

„Wie soll man lernen, (…) wenn die Heimatstadt bombardiert wird?“

Nur ein Tag vor der eigentlichen Flucht fiel dann die Entscheidung. Die Zwillinge sollten eigentlich noch ihre Abiturprüfungen ablegen, was aufgrund von Belagerung und Kämpfen leider nur teilweise möglich war. Wie soll man lernen, wenn noch nicht mal zuverlässig Strom für Licht da ist, wenn die Heimatstadt bombardiert wird, wenn man nicht an den Ort fahren kann, an dem die Prüfungen stattfinden? Also gab der Vater nach. Er selbst, ein Ingenieur für Elektrotechnik, der beim Staat angestellt ist, darf bis heute nicht ausreisen und verblieb mit seinem jüngeren Sohn vor Ort. Für die Brüder wäre es keine Option gewesen in den Krieg zu ziehen. „Natürlich hätten wir auch kämpfen können“, erklärt Sohaib, „aber wir wollen lieber etwas aufbauen, etwas machen, das sinnvoll ist. Man darf nicht vergessen: Es ist ein Bürgerkrieg vor dem wir geflüchtet sind. Da muss man sich klar machen, gegen wen man eigentlich kämpft. Steh‘ ich morgen früh plötzlich Freunden gegenüber und soll schießen?“

Sohaib studiert wie sein Bruder inzwischem am KIT. (Foto: privat)

In Deutschland angekommen mussten sich Obada und Sohaib erstmal einige Monate in Geduld üben. „Wir waren in einer großen Halle mit vielen anderen jungen Syrern untergebracht. Es gab nichts zu tun, wenig Platz und oft Streit. Wir waren so erleichtert, als wir im April nach Neupotz zugewiesen wurden“, so Obada. Zunächst hatten die beiden keinen Aufenthaltstitel. Ab Oktober wurden sie jedoch offiziell als Schutzsuchende anerkannt. Die große Erleichterung schwingt auch heute noch bei den Erzählungen der Brüder mit. Und Dankbarkeit: „Ein paar Ehrenamtliche, ganz besonders Betty Burk aus Neupotz, haben sich für uns und unsere Zukunft eingesetzt. So bekamen wir die Chance an der IGS Rülzheim in der 11. Klasse zu starten und die Allgemeine Hochschulreife regulär abzulegen. Der Anfang war schwer, die Sprachbarriere hoch und wir und unsere Mitschüler eher zurückhaltend, was das Kennenlernen anging“, erzählt Obada.

„Funktioniert hat das alles nur, weil alle um uns herum an einem Strang gezogen haben.“

Die beiden haben das deutsche Schulsystem als inhaltlich leichter wahrgenommen, als in ihrem Herkunftsland, da mehr Lernzeit für das gleiche Maß an Themen zur Verfügung steht. Dass sie nur wenig Deutschkenntnisse mitbrachten, war jedoch Herausforderung genug. Sohaib unterstreicht: „Wir wollten schnell Deutsch lernen, haben teilweise drei Deutschkurse parallel belegt und zusätzlich im Selbststudium zuhause trainiert. Funktioniert hat das aber alles nur, weil alle um uns herum an einem Strang gezogen haben. Gerade auch die Lehrer und unsere Stufenleitung an der IGS, die deutlich mehr Arbeit und Aufwand durch uns hatten, haben alles erdenkliche möglich gemacht. Dafür sind wir sehr dankbar. Leider sieht die Politik solche Beispiele nur selten, sie nimmt nicht wahr wie zeitintensiv und mitunter auch emotional sich Menschen über das normale Maß hinaus einbringen, um etwas Gutes zu bewirken.“

„Integration ist etwas Beidseitiges und hat mit Wertschätzung zu tun.“

Mittlerweile studieren die jungen Männer beide am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Obada Technische Volkswirtschaftslehre, Sohaib Wirtschaftsingenieurwesen und haben eine Wohnung in Jockgrim bezogen. Obada ist mittlerweile Vorsitzender der Grünen im Ort. Beide setzen sich darüber hinaus engagiert in der Migrationsberatung ein und geben ihre Erfahrungen weiter. Sie wissen, wie wichtig Unterstützung ist, um seinen Weg in Deutschland erfolgreich gehen zu können. Obada hebt hervor: „Integration ist etwas Beidseitiges und hat mit Wertschätzung zu tun.“ Ihm sei wichtig, dass sich Deutschland weiterentwickele, um in diesem Bereich die Weichen positiver zu stellen. Mulitkulti müsse seiner Ansicht nach eben auch eine Bühne haben und eine reine Duldung sei kein Willkommen.

„Das Leid der Menschen im Krieg ist groß, ganz gleich ob Bürgerkrieg oder Angriffskrieg“

„Wir müssen sehen, wie das alles weiter geht“, meint Obada. „Unter Umständen können wir unserem eigenen Land erst in zehn bis zwanzig Jahren helfen.“ Beide wünschen sich 2023 deutsche Staatsbürger werden zu dürfen, selbst wählen zu können und mitzuentscheiden, wo es mit Deutschland hingeht. Sohaib begründet das so: „Wir sind genauso betroffen wie alle anderen und fühlen uns mit Deutschland enger verbunden, gerade auch hinsichtlich der Werte, als mit Syrien.“ Sie hoffen, dass ihr mittlerweile 19-jähriger Bruder ein Visum erhält, um in Deutschland Zahnmedizin studieren zu können. Er lernt jetzt schon Deutsch, damit er einen einfacheren Start als die großen Brüder. hat „Das Leid der Menschen im Krieg ist groß, ganz gleich ob Bürgerkrieg oder Angriffskrieg“, unterstreicht Obada, „es braucht humanitäre Hilfe und Menschen, die mitdenken. Wir setzen uns aufgrund unserer eigenen Erfahrungen gerne für andere ein und geben damit ein Stück weit zurück, dass uns so viele Türen geöffnet wurden. (cdr)

Obada traf Habeck bei dessen Besuch in Landau kurz vor der Bundestagswahl und nutzte die Gelegenheit, um Fragen zu stellen. (Foto: privat)