Weniger Wirrwarr für mehr Akzeptanz

Standpunkt: Die zweite Pandemie-Welle kommt alles andere als überraschend – trotzdem herrscht großes Maßnahmen-Durcheinander. Warum hat man die Sommermonate nicht genutzt, um nachvollziehbare, wirksame Konzepte zu entwickeln?

Seit sechs Monaten warnen alle: „Im Herbst kommt die zweite Welle.“ Alle wussten es. Und trotzdem entsteht jetzt der Eindruck, als hätte es niemand geahnt. Die Politik scheint kein durchdachtes Konzept im Umgang mit der steigenden Infektionszahl zu haben. In Bayern drohen Ausgangssperren ab 21 Uhr, in Hamburg gelten kuriose Masken-Regelungen, die man nur mit detailliertem Stadtplan halbwegs nachvollziehen kann. Im Landkreis Germersheim war die Ampel vorgestern orange, in Landau dafür am Mittwoch gelb und am Samstag rot, im Kreis Südliche Weinstraße irgendwo dazwischen. Oder war es umgekehrt? Und vor allem: Was bedeutet das denn nun? Gut: Eins ist klar, egal ob es nun 41 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche sind oder 52: Wir sollten alle vorsichtig und vernünftig sein. Wir sehen, wie in ersten europäischen Ländern die Krankenhäuser bereits jetzt wieder ans Limit kommen, und das gilt es hier auf jeden Fall zu verhindern. 

Man fragt sich also schon: Warum wurden die Sommermonate nicht genutzt, um nützliche und einheitliche Maßnahmen für den absolut erwartbaren Fall jetzt zu erarbeiten? Man weiß beispielsweise inzwischen, dass Schulen und Kitas nicht zu den so genannten „Infektionstreibern“ gehören, trotzdem sind auch jetzt wieder präventive Schließungen im Gespräch. Währenddessen gab es aber für – offensichtlich viel gefährlichere – private Feiern erst sehr spät klare Ansagen – und das auch nur in manchen Bundesländern. Wer soll da den Überblick behalten? Wo darf ich mich jetzt mit wie vielen Menschen aus wie vielen Haushalten treffen? Und gilt das morgen auch noch? 

Wochenlang haben sich Teststationen und Gesundheitsämter mit Reiserückkehrern beschäftigt, obwohl sehr schnell deutlich wurde, dass von ihnen kaum ein Risiko ausgeht. Man hat es aber verpasst, in dieser Zeit ein Konzept für erwiesene Risikogruppen zu erarbeiten: Wie schützt man ältere Menschen, ohne Heime abriegeln zu müssen und Besuchsverbote zu verhängen? Wie kann man Pflege- und Krankenhauspersonal unterstützen? Wo können Schnelltests für mehr Sicherheit sorgen? Was – außer Lüften – macht den Schulbetrieb sicherer?

Der Politikbetrieb scheint von den steigenden Infektionszahlen jetzt überrascht zu sein. Uneinheitliches Auftreten, kommunale Einzelgänge, nicht nachvollziehbare Maßnahmen – was im Frühjahr von der Bevölkerung noch geduldig hingenommen wurde, gefährdet jetzt die breite Akzeptanz. Politiker und Entscheider hätten in den vergangenen Monaten genügend Zeit gehabt, gemeinsam mit Virologen, Epidemiologen, Wirtschaftsexperten und Soziologen einen Plan zu überlegen, wie man auf steigende Infektionszahlen verständlich und dennoch effektiv reagiert. Genug Zeit, um wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen zu lassen, Kompromisse zu schließen, Konzepte für die Wirtschaft zu erarbeiten und am Ende einen gemeinsamen Plan zu präsentieren, der von allen Beteiligten getragen wird. 

Natürlich macht es dabei Sinn, in besonders stark betroffenen Regionen, strengere Maßnahmen zu ergreifen als im Rest des Landes. Aber es macht keinen Sinn, in jeder Kommune, jedem Landkreis andere Regeln aufzustellen – unser Land ist vernetzt und so auch zu betrachten. Der Herbst hat gerade erst begonnen, der Winter steht uns noch bevor. Es täte uns allen gut, wenn wir mit Optimismus an einem Strang ziehen könnten.