Wolfgang Kubicki: „Ich zähle eher zu den Unangepassten!“

Unter vier Augen: Der FDP-Politiker und Rechtsanwalt Wolfgang Kubicki über seinen beruflichen Spagat und der Forderung nach mehr Medienkompetenz

Markus Eisel mit Wolfgang Kubicki. (Foto: privat)

Steckbrief: Wolfgang Kubicki
geboren am 3. März 1952 in Braunschweig
seit 1971: Mitglied der FDP
1985: zweites juristischews Staatsexamen, Rechtsanwalt in eigener Sozietät
seit 2013: Mitglied im Präsidium und stellv. Bundesvorsitzender der FDP
seiz 2017: Vizepräsident des Deutschen Bundestags


Sie haben VWL studiert und sind heute Rechtsanwalt. Was hat Sie in Ihrer Jugend in die Politik gezogen?

Wolfgang Kubicki: Mit der Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt 1969 gab es einen dramatischen gesellschaftlichen Umbruch. Wir hatten das Gefühl, nun würde sich etwas verändern. Die Themen dieser Zeit waren die Ostpolitik, die Folgen des Zweiten Weltkrieges und dass niemals wieder von deutschem Boden Krieg ausgehen darf. Während dieser Phase war ich bereits in der Schule politisch engagiert, allerdings noch ohne parteipolitische Zuordnung. Erst während meines Studiums kam ich zur FDP Schleswig-Holstein. Die Frage für mich war: Wenn ich oder andere sich nicht engagieren, wer soll es sonst machen? So begann meine parteipolitische Karriere Ende 1970/Anfang 1971.

Ist Ihr Beruf als Strafverteidiger zeitlich vereinbar mit Ihren Tätigkeiten als Politiker?

Wolfgang Kubicki: In der Zeit, als ich Fraktionsvorsitzender und im Landtag in Schleswig-Holstein war, war die zeitliche Aufteilung leichter – auch weil meine Kanzlei nicht weit vom Landtag entfernt lag. Seit ich aber Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Vorsitzender der Baukommission bin, ist dies deutlich schwerer miteinander zu vereinbaren. Ich bin deshalb seit Anfang des Jahres nicht mehr in meiner Sozietät, sondern schleiche mich so langsam raus, arbeite noch meine bestehenden Mandate ab, werde mich aber zu nichts Neuem mehr hinreißen lassen.

Was sagen Sie zu denjenigen, die nach dem Studium direkt in die Politik gehen ohne das wahre Leben kennengelernt zu haben?

Wolfgang Kubicki: Das wahre Leben kann man auch während des Studiums kennen lernen. Trotzdem halte ich ich es für sinnvoll, wenn Parlamentarier einen Berufsabschluss haben und diesen Beruf auch ausgeübt haben. Nirgendwo sonst als im Berufsleben lernt man, dass man mit Rigorismus nicht weiterkommt, sondern dass man kompromissfähig sein muss, wenn man echte Fortschritte erzielen will. Diese Einsicht scheint mir einigen jüngeren Kollegen zu fehlen.

Fehlt manchen Abgeordneten nicht auch der Kontakt zu normalen Bürgern?

Wolfgang Kubicki: Ja. Das sehen Sie allein daran, dass einige während der Sommermonate für ein 14-tägiges Betriebspraktikum werben, um festzustellen, welche Auswirkungen ihre Entscheidungen haben. Das ist absurd, weil der Bundestag von seiner Idee her der Ort ist, an dem Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsteilen, aus verschiedenen Regionen und mit verschiedenen beruflichen Vorkenntnissen zusammenkommen, um Lösungen zu finden. Und zwar ohne ständig einen Sachverständigen zu befragen, weil man selber Sachverstand hat.

Meinem Eindruck nach sind Sie ein streitbarer Geselle. Wie kamen Sie während 50 Jahren FDP mit den unterschiedlichen Vorsitzenden zurecht?

Wolfgang Kubicki: Ich zähle eher zu den Unangepassten. Das liegt an meinem persönlichen Naturell, aber auch an der Tatsache, dass ich neben der Politik immer einen Beruf gehabt habe, der mir die Unabhängigkeit garantiert – nicht nur in der Meinungsbildung, sondern auch in der Meinungsäußerung. Aber man kann auch nicht lange in einer Fraktion sein, wenn man ständig mit ihr im Streit liegt. Das kann man mir aber auch nicht nachsagen, denn ich war fast 25 Jahre Fraktionsvorsitzender der FDP in Schleswig-Holstein und sieben Mal Spitzenkandidat zu einer Wahl, die alle erfolgreich bestritten worden sind. Das kann man nicht erreichen, wenn man nicht „teamfähig“ ist. Ich denke, meine Art, meine Meinung offen zu sagen, ist von den Menschen goutiert worden.

Wie groß ist der Anteil der Selbstaufgabe bei einem Kompromiss?

Wolfgang Kubicki: Man muss seine Position nicht aufgeben, aber wenn man nur gemeinsam zu einem bestimmten Ziel kommen kann, dann geht es darum, eine für alle noch tragbare Lösung zu finden. Wenn die Menschen nachvollziehen können, wie man dahin gekommen ist, dann ist für das demokratische Gemeinwesen sehr viel getan. Die Tatsache, dass wir friedlich miteinander umgehen können, beruht auf Kompromissfähigkeit.

Hat sich mit dem Einzug der AfD in den Bundestag die Kompromissbereitschaft abgeschwächt und hat sich nicht auch die Sprache verändert?

Wolfgang Kubicki: Ja, der Umgangston ist aggressiver geworden, allerdings nicht nur im Bundestag sondern insgesamt. Wir erleben eine immer tiefere Spaltung zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Es gibt oft gar nicht den Willen, Brücken zu bauen, sondern die Ausgrenzung wird teilweise zum Prinzip. Diese Form der verbalen Radikalisierung, die irgendwann auch in Taten-Radikalisierung ausufern kann, ist nicht gut für diese Gesellschaft. Ich appelliere immer wieder sowohl an die AfD als auch an die Linken, etwas abzurüsten, denn wenn man nicht möchte, dass diese Gesellschaft in Gewalttätigkeiten ausartet, dann muss man beginnen, verbal abzurüsten.

Ist diese radikalisierte Sprache aber nicht auch Teil des Programms der Randparteien?

Wolfgang Kubicki: Es gibt politische Gruppierungen, die ihre Existenz auf einen Feind begründen. Das gilt für links wie für rechts. Feindbilder hat es schon immer gegeben. Aber mittlerweile werden diese Feindbilder am Markt der Meinungen viel stärker propagiert und transportiert, als ihrer wirklichen Stärke entspricht.

Hängt das auch mit den sozialen Netzwerken zusammen?

Wolfgang Kubicki: Ja, auch und zwar deshalb, weil man dort anonym jeden Müll raushauen kann. Mir ist es gelungen, an einem Tag in den sozialen Netzwerken sowohl zur rechtsradikalen Drecksau, als auch zu einem Teil des linksgrün-versifften Politik-Establishments zu werden. Das muss man erstmal hinbekommen! Also ich kann nichts falsch gemacht haben, wenn beide extremen Lager auf mich einschlagen (beide lachen). Die Aggressivität in der Sprache ist aber auch Teil der Digitalisierung der normalen Medien. Die Sucht nach Klicks führt zu Verkürzung, Überinterpretation und Radikalisierung. Auch die Geschwindigkeit birgt ein Risiko, weil die Zeit fehlt, über Inhalte zu reflektieren.

Haben die etablierten Parteien die Entwicklung bei den sozialen Netzwerken verschlafen?

Wolfgang Kubicki: Ja und nein. Es geht sicherlich immer noch professioneller. Und deshalb sind wir dabei, unsere Kommunikation jeden Tag weiter zu verbessern. Das Netz ist Fluch und Segen zugleich. Die Form der unmittelbaren Kommunikation, ohne dass noch jemand dazwischen geschaltet ist und die sehr schnelle und sehr große Reichweite, das ist sicher ein Vorteil. Es ist aber auch gleichzeitig ein Fluch, weil man genau deshalb sehr schnell sehr viel Unsinn verbreiten kann. Wir müssen gerade unter dem täglichen Zeitdruck aufpassen, dass wir in der geforderten Geschwindigkeit keine Fehler produzieren, die wir bei längerem Nachdenken nicht machen würden. Das gilt nicht nur für die Kommunikation, sondern auch für Entscheidungen. Bei der Corona-Krise müssen wir bedenken, dass die Menschen durch jede Entscheidung, die wir treffen, verunsichert werden könnten. Wir sagen, man solle keine Panik haben, aber die Entscheidungen der Bundesregierung legen nahe, dass dort selbst große Unsicherheit herrscht. Man muss also aufpassen, dass man nicht genau dadurch, dass man sagt, man wolle keine Panik, die Panik erst erzeugt.

Ist nicht bei allen Überlegungen zu Extremismus, die Bildung das zentrale Thema?

Wolfgang Kubicki: Wir sind im Bildungsbereich Jahre hinterher. Wir könnten einen Teil des Unterrichts digital abwickeln, ohne dass die Leute in die Schule gehen müssen. Wir müssen die Medienkompetenz der jungen Menschen fördern, damit ihnen klar ist, dass nicht alles, was sie im Netz lesen, wahr ist. Außerdem muss man lernen, Fake News zu identifizieren. Die Gesellschaft muss lernen, im Netz gefahrlos zu kommunizieren. Was momentan wichtig ist, ist die Vermittlung von Problemlösungskompetenz. Man muss alle relevanten Informationen herbeischaffen können, um ein Problem sinnvoll angehen und lösen zu können. Die Diskussion, ob Handys und Tablets im Unterricht eingesetzt werden sollen, ist nach meiner Ansicht von Vorgestern!

Wie schafft man es, dass die Entwicklung bei den Entscheidungsträgern ankommt?

Wolfgang Kubicki: Das schafft man nur durch politischen Druck. Endlich, seit 2019, kann der Bund nach einer Grundgesetzänderung direkt Geld für die digitale Ausrüstung der Schulen geben. Die Länder hätten die Kapazitäten dafür nicht. Mit jedem Jahr, das wir damit warten, versündigen wir uns an den Lebenschancen der jungen Generation und legen damit die Axt an die Grundlagen unseres Wohlstandes. Ohne digitale Kompetenz wird in fünf Jahren nichts mehr möglich sein.

Kandidieren Sie noch einmal für den Bundestag?

Wolfgang Kubicki: Ja. (eis)

(Foto: honorarfrei)