Steckbrief: Reinhold „Reiner“ Calmund

  • Geboren am 23. November 1948 in Brühl
  • Ehemaliger deutscher Fußballfunktionär
  • Wurde als Hauptverantwortlicher der Fußballabteilung des Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen bekannt
  • Die größten Erfolge der Leverkusener während Calmunds Engagement waren der Gewinn des UEFA-Cups 1988 und des DFB-Pokals 1993
  • Derzeit als Experte, Moderator und Buchautor aktiv

Wie geht es Ihnen?

Reiner Calmund: Danke, ganz hervorragend. Es sei denn, ich gucke mir die Nachrichten an. Dann wird mir schlecht. Ich bin jetzt 73 Jahre alt und drei Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges geboren. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass sich in der Mitte Europas ein dermaßen verheerender Angriffskrieg entwickelt, dass ein Land seinen Nachbarn attackiert, dass Omas, Opas, Kinder, Mütter, Väter, Brüder und Schwestern ermordet und gefoltert werden. Nach unseren Gräueltaten mit Millionen Toten im 2. Weltkrieg bin ich fest davon ausgegangen, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen würden.

„Grill den Henssler“, eine wöchentliche Fußballrunde mit Matze Knop, Experte in Fußball-Talkshows, Vorträge, Sponsorentermine, Soziales Engagement… Wie bekommt man das alles hin?

Reiner Calmund: Glauben Sie mir, ich sage deutlich mehr Termine ab, als ich wahrnehme. Ich kann mir den Luxus erlauben, nur noch das zu machen, auf das ich Lust habe. Und genau das mache ich.

Kein Lust auf (Un-) Ruhestand?

Reiner Calmund: Nein, wer rastet, der rostet. Und darauf habe ich überhaupt keinen Bock.

Welches Engagement im sozialen Bereich liegt Ihnen besonders am Herzen?

Reiner Calmund: Jedes. Es ist ebenso wichtig, sich für Kinder einzusetzen wie für alte Menschen, für Flüchtlinge aus der Ukraine wie für die aus Syrien. Ich versuche, zu helfen, wo ich helfen kann.

Wie viel Fußball steckt noch in Reiner Calmund?

Reiner Calmund: Jede Menge. Ich bin absolut fußballbekloppt – meine Autobiografie trug nicht umsonst diesen Titel. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Bei so viel Hintergrundwissen – wie schwer ist es, Stillschweigen zu bewahren?

Reiner Calmund: Das ist überhaupt nicht schwer. Bevor ich in meinen Kolumnen, im Podcast oder etwa beim Doppelpass irgendwas raushaue, habe ich das vorher mit den Betroffenen abgesprochen. Wenn sie mich um Stillschweigen bitten, dann halte ich meine Klappe.

Wie denken Sie über solche Tabuthemen wie Homophobie und Depressionen im Spitzensport?

Reiner Calmund: Ich denke, es sind keine Tabuthemen mehr. Der schreckliche Tod von Robert Enke und das Outing von Thomas Hitzlsperger haben die Menschen für diese Themen sensibilisiert. Man geht heute sehr viel offener mit dieser Problematik um und versucht, die Vorurteile abzubauen. In Sachen Depressionen wird immer mehr entgegengearbeitet, oft bereits in den Nachwuchs-Leistungszentren, wo Psychologen den Kindern und Jugendlichen helfen, mit Misserfolg, aber auch mit Erfolg umzugehen.

(Foto: Pick Fotografie)

Ist der moderne Fußball derzeit der Welt noch mehr entrückt?

Reiner Calmund: Ja und nein. Natürlich sind die Summen, die für Spitzenfußballer gezahlt werden, exorbitant und für Otto Normalverbraucher nicht oder nur schwer nachzuvollziehen. Aber diese Entwicklung ist vor fast 30 Jahren mit dem Bosman-Urteil eingeläutet worden und nicht mehr zu stoppen. Es sei denn, alle Beteiligten machen mit. Da sehe ich aktuell aber keine Übereinkunft. Der Fußball entfernt sich von seinen Fans, wenn er ganz offen eine Super League fordert, eine geschlossene Gesellschaft, in der die Milliarden gescheffelt und unter sich verteilt werden. Und dann kommt Eintracht Frankfurt und fegt Barcelona aus deren eigenem Stadion. Da geht mir doch das Herz auf. Wo ich ein Problem sehe, ist die Aufsplitterung der Spiele auf derart viele Sender. Pokal bei den Öffentlich-Rechtlichen und Sky. Bundesliga bei Sky und DAZN. Europacup bei DAZN, Amazon Prime und RTL+  – das wird zu viel, das wird für viele Menschen auch zu teuer. Da muss der Fußball aufpassen, dass er nicht die Fans verliert.

Wie stehen Sie zur WM in Katar? Erfüllt der Fußball hier die Rolle, auf Missstände hinzuweisen, oder wird er zugunsten eines Systems aus FIFA und diktatorischem Regime missbraucht?

Reiner Calmund: Um diese Frage konkret zu beantworten, braucht man eine Sonder-Ausgabe, oder zumindest ein paar Zeitungsseiten. Mit ein paar Sätzen ist dieses Thema nicht zu beantworten. In unseren letzten Generationen wurden auch große Sportevents, z.B. in Berlin, Moskau, Peking etc. durchgeführt, obwohl dort eindeutig gegen Menschenrechte verstoßen wurde. Ich schwimme mal gegen den Strom und versuche, die positiven Aspekte zur WM in Katar herauszuarbeiten. Ich bin mir bewusst, dass dies alles andere als populär ist, dennoch gab es weder von den Südamerikanern, Afrikanern, Asiaten noch von einem Europäer einen Boykott für diese WM. Die FIFA-Delegierten stimmten im Übrigen mit 15:8 für die WM 2022 in Katar und gegen die USA. 2026 findet die WM dann in Mexico, Kanada und in USA statt. Ich halte es jedoch für einen großen Fehler der FIFA, alle 64 WM-Spiele ausschließlich in dem kleinen Golfstaat austragen zu lassen. Warum hat man die Vereinigten Arabischen Emirate mit ihrer idealen Stadion-, Hotel- und Verkehrs- Infrastruktur nicht zum Co- Partner gemacht? Die Städte in den Emiraten hätte man maximal in einer Flugstunde erreichen können, also deutlich schneller als 2002 bei der WM in Japan und Korea oder 2012 bei der EM in Polen und der Ukraine. Fakt ist, dass Katar durch seine Wirtschaftskraft dank der Öl-Milliarden weltweit erfahrene Verbands- und Veranstaltungsprofis verpflichten konnte, die ihr Know-how in ein tolles Produkt investieren werden. Sowohl die Organisation als auch die Infrastruktur werden perfekt sein. Bleiben die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Zustände in Katar. Teilnehmer und Gäste müssen die Augen auf das Land richten, sie müssen auf die Missstände hinweisen. Es kommen tausende Journalisten, die frei berichten wollen, sollen und müssen.

Wie stehen Sie zum Plan einer WM alle 2 Jahre?

Reiner Calmund: Völliger Blödsinn, braucht kein Mensch und ist zu Recht im Mülleimer gelandet.

Bleibt kein Platz mehr für Fußball-Nostalgie?

Reiner Calmund: Doch. Für jeden persönlich schon. 50 Jahre ist es jetzt her, dass Deutschland in Wembley England schlug. Auf YouTube gibt es das komplette Spiel anzuschauen. Ich habe danach 1972 den EM-Titel von Deutschland gegen Russland in Brüssel live miterleben dürfen.

Wie stehen Sie zu 50+1?

Reiner Calmund: Ich kann ein Buch mit guten Argumenten für 50+1 schreiben, allerdings auch ein zweites mit guten Argumenten gegen 50+1 verfassen. Der FC Bayern ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass ein Verein sein eigener Herr im Hause bleibt und doch gut und erfolgreich mit Investoren zusammenarbeiten kann. Obwohl es momentan nicht möglich ist, dass ein Milliardenschwerer Investor Bayern München als alleiniger Vereins-Besitzer übernehmen kann, mischen die Münchener im europäischen Spitzen-Fußball sehr gut mit. Von den letzten drei Champions-League-Siegern FC Liverpool, Bayern München und FC Chelsea hat nur Bayern München das Kommando im eigenen Verein. Liverpool und Chelsea gehörten dagegen zu 100 Prozent dem Amerikaner Henry und dem Russen Abramovic. Der FC Bayern München hält als Mutterverein 75 Prozent der Anteile. Die restlichen 25 Prozent Anteile gehören jeweils zu 8,33 Prozent der Adidas AG, AUDI AG und Allianz SE. Darüberhinaus sitzt auch noch ein Vertreter der Investoren Telekom und von der Uni Credit im Aufsichtsrat des FC Bayern. Sport und Wirtschaft machen bei den Bayern einen perfekten Job. Obwohl es in dieser Konstellation nicht möglich ist, dass ein steinreicher Milliardär als alleiniger Vereins-Besitzer die Münchener übernehmen kann, gehören sie sportlich zur europäischen Beletage.

Ist der Verein mit einem Starspieler und dessen Berater noch auf Augenhöhe?

Reiner Calmund: Es kommt auf viele Faktoren an: Wertschätzung, sportlich wie menschlich. Realistische Einschätzung beider Seiten, was den Sport angeht und was die Möglichkeiten des Klubs betrifft. Das Spiel muss mit offenen Karten gespielt werden. Es ist nicht nötig, im Krach auseinander zu gehen. Vernunft ist gefragt.

Wird Gradlinigkeit im Profisport schnell auch zur Gratwanderung?

Reiner Calmund: Gradlinigkeit ist die Basis für eine erfolgreiche sportliche Laufbahn. Wichtig ist, dass der erfolgreiche Star dann die sportlichen, gesellschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten mit FairPlay und Anstand wahrnimmt.

Kampf gegen rechts und für Humanismus sind wichtiger denn je… Ist das nicht schlimm, dass man das überhaupt machen muss?

Reiner Calmund: In fast allen nationalen Verfassungen ist weltweit die Würde des Menschen fest verankert. Respekt, Persönlichkeit, Toleranz sowie Gewissens- und Gewaltfreiheit sind die Grundlage für unser Leben. Unabhängig davon, kann für mich jeder Mensch seiner eigenen Religion nachgehen, sofern sie die grundsätzlichen humanitären Grundwerte berücksichtigt und akzeptiert.

(Foto: Henning Ross)